Heinrich V: Laudatio bei der Preisverleihung

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„Not leidende Banken“ ist zum Unwort des Jahres 2008 erklärt worden. Das Unwort soll das Paradox einer Finanzkrise signalisieren, dass die Banken um Hilfe rufen, aber die Ursache einer Krise sind, von der die ganze Wirtschaft betroffen ist und die Mehrheit der Gesellschaft verwundet wurde.

1.Die verwundete Gesellschaft
Die Verwundung der Gesellschaft hat eine monetäre, soziale und ökologische Dimension.

Die monetäre Wunde ist eine Auswirkung von Systemfehlern der Finanzwirtschaft. In erster Linie war es nicht die Gier oder Nachlässigkeit oder Naivität einzelner Bänker. Der Fehler liegt zum einen darin, dass das Geld in einer wohlhabenden Gesellschaft nicht mehr nur Tauschmittel, sondern in zunehmendem Maß auch Wertspeicher, ein Vermögenswert ist. Und zum andern darin, dass Unternehmen nicht als Personenverband, als kommunikatives Vertragsnetz begriffen werden, sondern als Vermögensgegenstand in den Händen der An-teilseigner. Einzig deren Interessen spielen eine Rolle, nicht die der Belegschaften, der Kun-den oder der Kommunen. Außerdem ticken die Vermögensmärkte anders als die Gütermärk-te. Während die Bewegungen der Gütermärkte durch die Knappheit realer
Produktionsfaktoren und realer Kaufkraft ausgebremst werden, sind die Vermögensmärkte durch subjektive Erwartungen, die schrankenlos sind, gesteuert. Dazu kommt, dass die Geld- und Kreditschöpfungsmacht des Bankensystems (fast) unbegrenzt ist. Diese doppelte Dyna-mik des Finanzkapitalismus – die Erwartungen der Kapitaleigner und der Kreditspielraum des Bankensystems erzeugen in regelmäßigen Abständen spekulative Blasen, die sich völlig von der Realwirtschaft abkoppeln. Aber wenn die spekulative Blase platzt, hat dies verheerende Auswirkungen auf das reale Wachstum, die Beschäftigung und das Niveau der Einkommen.

Die soziale Wunde besteht in der systematischen Entregelung der Arbeitsverhältnisse. Um eine Kernbelegschaft haben sich seit mehr als zwei Jahrzehnten Randgruppen der Teilzeitar-beitenden, Leiharbeiter, Scheinselbständigen, befristet und prekär Beschäftigten, Midi-, Mi-ni- und 1 €-Jobs gelegt. Die Tarifbindung ist erodiert, der rechtliche Arbeits- und Gesund-heitsschutz für die Individuen wurde unterlaufen, der Niedriglohnsektor hat sich ausgedehnt, ein Fünftel der Vollzeitbeschäftigten beziehen Löhne, die an die Armutsgrenze heranreichen. Das Armutsrisiko, das seit Mitte der 70er Jahre beständig ansteigt, reicht inzwischen an die Mittelschicht heran. Die Schere der Einkommens- und Vermögensverteilung hat sich seit dem Jahr 2000 extrem geöffnet. Die Risse in der Gesellschaft  weiten sich.

Die ökologische Wunde ist eine Begleiterscheinung des Finanzkapitalismus als auch dessen Krise. Werner Sombart hat zu Beginn des Jahrhunderts die ungeheure Dynamik des Kapita-lismus auf zwei Kräfte zurück geführt, zum einen auf die unbegrenzte Geld- und  Kre-ditschöpfungsmacht des Bankensystems, das eine elastische Geldversorgung gewährleistete und so der Steigerung des Produktionspotentials keine Schranken setzte, und zum anderen dem unberechtigten Griff in die „Sparbüchse der Erde“. Die natürlichen Ressourcen der Son-nenenergie, die in Milliarden von Jahren in der Erde gespeichert wurden, werden nun tech-nik- und kapitalgetrieben für einen Teil der gegenwärtig lebenden Bevölkerung genutzt und jenseits der Tragfähigkeit des Bodens, der Luft und des Wassers auf der Erde abgeladen. Vor einem halben Jahr wurde der Klimawandel zum Anlass genommen, eine ernsthafte ökono-mische Umsteuerung weltweit in Angriff zu nehmen. Die Finanzkrise hat dieses Projekt gleichsam “versenkt”. Das vorherrschende Interesse besteht darin, das Finanzregime wieder zu kräftigen, Arbeitsplätze zu sichern und die Wachstums¬einbrüche der traditionellen Bran-chen dadurch zu überspielen, dass gerade sie zum „Weiter so“ animiert und subventioniert werden.

2. Der Ruf nach dem Staat
Als die von den Finanzjongleuren inszenierten Zauberwelten zusammenkrachten, riefen die-se nach dem Staat, um das Kartenhaus zu retten. Der Staat ist jedoch nicht die Rettung aus der Krise, sondern deren Bestandteil. Denn die staatlichen Organe in Deutschland haben den Umbau des kooperativen „Rheinischen Kapitalismus“ in das angloamerikanische Finanzre-gime voran¬getrieben. Beschränkungen des Börsenhandels wurden gelockert, die Anlagemöglichkeiten in Fonds erweitert, der Derivatenhandel zugelassen und die Gewinne der Banken aus dem Verkauf der Industriebeteiligungen für steuerfrei erklärt. Kreditverbriefungen wurden steuerlich begünstigt, Hedgefonds in der Form von Dachfonds zugelassen. Und bis vor kurzem war die Regierung darum bemüht, innovative Finanzprodukte zu fördern, Kapital¬beteiligungsgesellschaften steuerlich privilegiert zu behandeln und Bilanzkorrekturen gemäß den aktuellen Werten zuzulassen.
Auf den Notschrei der Finanzeliten hat die deutsche Regierung unverzüglich reagiert. Aber waren die staatlichen Entscheidungsträger besonnen genug oder haben sie sich von den dramatisierten Lagebeschreibungen der Mega-Banken und deren öffentlicher Aufsicht nöti-gen lassen? Ihre Reaktionsweisen ähneln dem an den Börsen eingespielten Profil: Sie gehen isoliert voran, handeln kurzatmig, übertrieben und spektakulär. Zur Entlastung  bringen sie vor,  dass zuerst die Unfallstelle geräumt werden musste, bevor diejenigen identifiziert sind, die den Schaden verursacht haben. Zuerst müsse das Feuer gelöscht werden, auch wenn es sich um Brandstiftung handelt. Aber wenn die Unfallstelle im Nebel liegt und die mutmaßli-chen Nebelwerfer wenig unternehmen, um den Nebel zu lichten? Konnten die Krisenherde, von denen Sparkassen und Genossenschaftsbanken wohl ziemlich verschont blieben, nicht präziser identifiziert werden? War es gerechtfertigt, die Brandstifter ans Lenkrad des Lösch-zugs zu setzen und sie derart in das Schnüren des staatlichen Rettungspakets einzubinden? Hätte man nicht darauf setzen sollen, dass die großen und mächtigen Finanzunternehmen erst einmal zur Selbsthilfe greifen? Haben die Politiker mit der Parole: "Wenn der Himmel einstürzt, sind alle Spatzen tot" gar die Deutungsmuster der Finanzeliten unbesehen über-nommen? Und vor allem: Musste die "Rettung" gegen die Öffentlichkeit und das Parlament abgeschirmt werden?
Der Ruf nach dem Staat klingt erst recht verwegen, wenn es um die Rettung von Firmen geht, die in eine reale Krise geraten sind, oder wenn es darum geht, den Einbruch der Be-schäftigung und des Angebots an Ausbildungsplätzen, der nun wieder einmal bevorsteht, zu verhindern. Wie sehr sind die abhängig Beschäftigten und die Jugendlichen nach dem Schul-abschluss getäuscht, belogen und mit leeren Versprechen vertröstet worden? Mehrere Re-gierungen wollten die Arbeitslosigkeit in zwei oder drei Jahren halbieren. Die Arbeitgeber und staatlichen Organe erklärten noch vor einem Jahr, dass Vollbeschäftigung in greifbare Nähe gerückt, und dass zwischen dem Angebot an Ausbildungsplätzen und der Nachfrage nach Ausbildungs¬ver¬hältnissen ein Gleichgewicht erzielt worden sei. Von Vollbeschäftigung ist nun nicht mehr die Rede. Die Tatsache, dass die Hälfte derer, die in ein Ausbildungsver-hältnis eintreten, Altbewerber sind, dass das durchschnittliche Eintrittsalter in ein Ausbil-dungsverhältnis derzeit 19,3 Jahre beträgt, während es 1960-1970 bei etwa 16 Jahren lag, und dass eine halbe Million Jugendlicher in den Warteschleifen der Berufsvorbereitung, Be-rufsgrundbildung, freiwilligen Schuljahre und unbezahlten Praktika herumhängt, dass zwi-schen der Ausbildungsschwelle und der  Beschäftigungsschwelle ein Parallel-Universum ohne Verbindung mit dem Ausbildungssystem existiert, wird in den Erfolgsmeldungen meist verschwiegen. Eine unerträgliche Beleidigung der gegenwärtigen Arbeitslosen und Auszubil-denden besteht darin, dass die Ursachen der Arbeitslosigkeit den Individuen selbst angelastet werden, sie seien nicht arbeitsfähig oder nicht arbeitswillig. Mir scheint, dass hier ein Slogan der Frauenbewegung anwendbar ist, „dass wir nicht als Mädchen geboren, sondern zu Mädchen gemacht worden sind“. Folgerichtig könnte man sagen, dass die orientierungs-schwachen Jugendlichen nicht als solche geboren, sondern dazu gemacht worden sind. Der Aktionismus der Politiker ist fehlgeleitet, wenn sie der Parole folgen: „Sozial ist, was Arbeit schafft!“ oder: „Irgendein Ausbildungsplatz ist besser als gar keiner!“. In solchen Sprüchen offenbart sich der ganze Skandal, der darin besteht, dass die Politiker dazu anleiten, die kostbarste Ressource, über die eine Gesellschaft verfügt, nämlich das Arbeitsvermögen der Jugendlichen, mit jedem Tag mehr zu verschleißen, ohne dass sie sich dieser Abwärtsspirale entgegenstemmen.

3. Die Ausbildungspaten
Dass weite Teile der Bevölkerung auf die Komplizenschaft von Politikern und Banken oder Konzernen verbittert reagieren, ist nicht verwunderlich. Dabei wählen sie zwei Alternativen, ein aggressives Auftreten nach außen oder ein resignierendes Wegtreten nach innen, indem sie sich in eine virtuelle Welt einschließen, sich isolieren, verkrümmen und alle Außenein-flüsse an sich abgleiten lassen.
Die Ausbildungspaten haben einen radikal anderen Weg gewählt. Sie treten auf, nachdem sie sich selbst entdeckt haben, ihre Fähigkeiten und Interessen, ihre Einsatzbereitschaft – und nachdem sie die Anderen entdeckt haben, die ihnen zu verstehen geben: Wir brauchen Euch! Sie antworten darauf mit einem strengen, offenen und sympathisch lächelnden Blick

Ein strenger Blick der Ausbildungspaten richtet sich gegen den pharisäischen Hauptstrom der öffentlichen, politisch gehegten Propaganda sowie gegen die Stammtischparolen, dass die heutigen Jugendlichen nicht ausbildungsfähig seien. Kann es sein, dass diese etwa weni-ger begabt, interessiert, neugierig oder wissenshungrig sind als die Jahrgangsgruppen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit ins Berufsleben traten? Die Motivation und Energie der heutigen Jugendlichen sind das Resultat einer mehr als dreißig Jahren andauernden Massen-arbeitslosigkeit. Dass sie aus ihrer Chancenlosigkeit eine vernünftige Konsequenz ziehen, nämlich sich auf Hartz IV als den höchstwahrscheinlichen Berufseinstieg vorzubereiten, ist höchst plausibel - jedenfalls eher als ihnen einzureden, sie sollten alles daran setzen, jene Chance, die sie gar nicht haben, zu nutzen.
Eine zweite Stammtischparole, gegen die der strenge Blick der Ausbildungspaten gerichtet ist, lautet: Den Jugendlichen fehlt das Wertebewusstsein. Sie haben den Krieg nicht erlebt, kennen weder die Flakhelfer noch die Trümmerfrauen und wissen nicht, welche Entbehrun-gen ihre Eltern und Großeltern erlitten haben. „Es soll Spaß machen!“ oder: „Null Bock!“ seien ihre Antworten auf die riesigen Herausforderungen der Globalisierung, der demogra-phischen Entwicklung und der technischen Revolution. Aber was Werte sind, entscheiden immer nur die Individuen, oder sie verständigen sich in der Gruppe oder in der Klasse dar-über, was sie zum Inhalt ihres Lebens machen, was sie in ihren Lebensentwurf als wün-schenswert, als wertvoll einbauen. Wenn Jugendliche andere Lebensstile als wertvoll anse-hen als ihre Eltern, ist dies kein Werteverlust.
Nicht beschäftigungsfähig seien die Jugendlichen – Gegen dieses Vorurteil hat es der strenge Blick der Ausbildungspaten besonders schwer. Zynisch klingt die Auffassung eines renom-mierten Sozialwissenschaftlers, der behauptet, dass ein gewisser Satz an Arbeitslosigkeit dem Ideenhaushalt der Gesellschaft gut tue, weil er die Leistungsbereitschaft ansporne, so-wohl derer, die keinen Arbeitsplatz finden, als auch derer, die erwerbstätig sind. Tatsächlich steigt mit jedem Arbeitslosen das Kompetenzniveau, das die Handwerksmeister oder Kon-zernchefs einfordern, bevor sie einem Jugendlichen einen Ausbildungsplatz anbieten. Die Banken haben damit angefangen, nur noch Abiturientinnen und Abiturienten einzustellen, da sie das Angebot sortieren konnten. Wer sich nicht als olympiareifer Einzelkämpfer ausweist, dem bleibt das endlose Rotieren im Hamsterrad überlassen. Wer ist eigentlich mehr krank – diese Arbeitsgesellschaft, die zur Horde von Arbeitstieren entartet, oder Jugendliche, die sich einer solchen Nötigung verweigern?

Ein offener Blick versetzt die Ausbildungspaten in die Lage, hinter der Maske der Jugendli-chen, in die diese zum Selbstschutz gegen das Besserwissen und die Überheblichkeit  der Etablierten tragen, eine individuelle Person zu entdecken, die mit einer unverwechselbaren Würde ausgestattet ist, verletzbar und empfindsam, auf der Suche nach Selbstachtung und Anerkennung, auf dem Weg zu einer eigenständigen Persönlichkeit, voller Sorge, den müh-sam aufgebauten Selbstwert wieder zu verlieren. Wie ein Baum ohne Blätter sind sie in der Erwartung einer wärmeren Jahreszeit, aus der Keime für eine vielfältige und schwere Frucht erwachsen.

Ein solcher Blick wittert in einem jeden Jugendlichen ein Bündel von Begabungen, die ihn von anderen unterscheiden. Und ebenso viele Interessen, die sich wie bunte Blumen auf einer Frühlingswiese ausbreiten. Warum bloß sind durch die soziale Umwelt und durch die wirtschaftliche Erstarrung so viele dieser Begabungen erstickt und so viele Neigungen unter-drückt worden? Als fragende Lebewesen sind sie in die Welt, in den Kindergarten und in die Schule eingetreten. Wer hat ihre Fragen überhört, unbefriedigend beantwortet und schließ-lich erstickt?

Der Blick der Ausbildungspaten ist offen auf die Erwartungen gerichtet, mit denen auszubil-dende Jugendliche der Arbeitsgesellschaft begegnen. In einigen Länderverfassungen steht etwas vom Recht auf Arbeit und auf eine Ausbildung, die den eigenen Fähigkeiten entspricht, die vorhandene Talente veredelt und kultiviert, die jene Welt erschließt, für sich die einzelnen Jugendlichen interessieren. Die Erwartungen der Jugendlichen an eine Ausbildung und Arbeit sind kaum andere als die, die auch Erwerbstätige angeben, wenn sie danach ge-fragt werden. „Gute Arbeit“ bedeutet an erster Stelle ein angemessenes Einkommen und einen sicheren Ausbildungs- bzw. Arbeitsplatz,  dann eine Tätigkeit, die sinnvoll ist, zufrieden und auf das Ergebnis der Anstrengung stolz sein lässt, ein angenehmes Betriebsklima, eine aufbauende Zusammenarbeit mit den Kollegen, die Gelegenheit, die eigenen Talente zu ent-falten sowie Vorgesetzte, die den Auszubildenden nicht wie einen Produktionsfaktor, sondern wie einen Menschen behandeln, ihn anerkennen und konstruktiv kritisieren.
Ist es utopisch, wenn Jugendliche erwarten, dass ihre Ausbildung und Arbeit die Mindestbe-dingungen eines gelingenden und gerechten Lebens gewährleistet? Es spricht doch für deren Wertebewusstsein, wenn sie einklagen, dass Jungen und Mädchen gleichgestellt werden. Sie finden es zu recht beschämend, wenn die sexistische Verteilung der Ausbildungsberufe sich in 30 Jahren kaum verändert hat. Dazu kommt der diskriminierende Vorwurf, dass die Mäd-chen Modeberufen nachträumen, in typische Frauenberu¬fe hinein drängen und kürzere Ausbildungsgänge bevorzugen. Tatsächlich werden mit dem Schlagwort von den Modeberu-fen Ursache und Wirkung vertauscht. Denn tatsächlich werden die jungen Frauen, obwohl sie bessere Schulnoten aufweisen, in Ausbildungsberufe abgedrängt, die vorrangig auf die betriebliche Interessenlage zugeschnitten sind, nämlich niedrige Entlohnung, begrenzte Verweildauer, hohe Belastungsfähigkeit  und rentable Verwertung der jungen Frauen. Folg-lich liegt die Zahl der Auszubilden¬den weit über dem Ersatzbedarf und ihr Beschäftigungsrisi-ko ist entsprechend hoch.
Vermutlich haben die Jugendlichen ein treffsicheres Gespür dafür, dass reife Industrieländer an der Schwelle zum Zeitalter des Arbeitsvermögens stehen, dass die Zukunft der Arbeit nicht in der Fortsetzung der Industriearbeit oder in einer künstlich hoch gezüchteten Ex-portwirtschaft liegt, sondern in der Arbeit an den Menschen, in der Veredelung und Kultivie-rung der kostbarsten Ressource, über die eine Wirtschaft verfügt, das menschliche Arbeits-vermögen. Damit denken und fühlen sie gegen den regierungsamtlichen Trend, der von den Jugendlichen modularisiertes Wissen  verlangt, das vor allem technisch angereichert und wirtschaftlich verwertbar ist, am Ende jedoch durch die Hegemonie eines Finanzkapitalismus geschändet wird. Denn dieser stuft die Arbeit als Ware wie jede andere ein, die den Geset-zen des Marktes gehorchen muss -  gleich  Aluminiumschrott, Gebrauchtwagen oder Blut-orangen.
Junge Menschen wehren sich zu Recht, dass Unternehmen wie die Armee, das Symphonie-orchester oder die katholische Kirche die letzten vor-demokratischen Gebilde in einer ten-denziell egalitären Gesellschaft sind. Sie haben im Kindergarten, in der Schule, in der Familie und in Peergroups wohltuende Erfahrungen mit der Demokratie als Lebensform gemacht und verstehen nicht, wieso sie während der Ausbildung in Handwerksbetrieben oder beim Eintritt in einen Konzern wie bloße Befehlsempfänger behandelt werden, die stumm und blind auf Anweisungen des Vorgesetzen reagieren sollen.
Scheinbar habe ich viel von den Jugendlichen geredet, tatsächlich jedoch die Ausbildungspa-tinnen und -paten gemeint und angesprochen, wie diese die jungen Menschen sehen, nach-dem sie die Seite und den Blick gewechselt haben – als Begleiterinnen und Anwälte von Ju-gendlichen, die nach Orientierung und Bestätigung suchen.

Ein sympathisch lächelnder Blick der Ausbildungspaten bildet die Brücke zu ihrer Praxis. Der christliche Glaube ist ja, wenn wir einen Impuls des Zweiten Vatikanischen Konzils und die Theologie der Befreiung ernst nehmen, nicht in erster Linie eine Sammlung tief schürfender Gedanken, die auswendig gelernt werden, oder ein Bündel symbolischer Gesten, die zum liturgischen Träumen anregen, sondern Praxis. Ein lächelnder Blick, ein sympathisches Herz und ein solidarisches Einstehen füreinander sind Glaubenspraxis.
Ein solches Lächeln der Ausbildungspatinnen und -paten bricht das geknickte Rohr nicht ab, löscht den glimmenden Docht nicht aus, sondern hebt die nieder¬geschlagenen Augen, gibt den weich gewordenen Knien Halt, richtet den nieder¬gedrückten Körper orientierungs-schwacher junger Menschen auf. „Aufrichten“ ist in der griechischen Sprache des Neuen Testaments das Wort, das sowohl in den Krankengeschichten des irdischen Jesus als auch in den Ostererzählungen vom auferweckten Christus verwendet wird. Es meint die Geste, da Jesus einem anderen die Hand reicht, ihn hoch hebt, ihm unter die Arme greift, ihn aufrich-tet, damit er den aufrechten Gang lernt und aufrecht gehen kann. In der Bibel des alten Bundes steht ein schöner Satz, der dies zum Ausdruck bringt: „Ich bin der Herr, euer Gott, der euch aus dem Land der Ägypter herausgeführt hat, so dass ihr nicht mehr ihre Sklaven zu sein braucht. Ich habe eure Jochstangen zerbrochen und euch wieder aufrecht gehen lassen“ (Lev 26, 13).
Lächelnde Blicke Erwachsener können junge Menschen aufrichten. Dadurch werden diese auf eine „gleiche Augenhöhe“ gehoben. Gleiche Augenhöhe ist das Symbol für den Grundsatz der Gerechtigkeit als einer Gleichheits-vermutung. In den vergangenen Jahren haben politische und kirchliche Eliten versucht, der Bevölkerung neue Begriffe von Gerechtigkeit einzureden. Unterschiedliche Talente und Leistungen müssten unterschiedlich entlohnt werden. Eine differenzierte Verteilung der Einkommen und Vermögen sei gerecht. „Jedem das Seine“ bedeute nicht, dass Löhne und Sozialleistungen nach dem jeweiligen Bedarf fest-gesetzt werden sollten. Leistungs- und Marktgerechtigkeit hätten Vorrang vor der Vertei-lungsgerechtigkeit. Gleiche Gerechtigkeit bedeutet dagegen, dass die Mitglieder einer de-mokratischen Gesellschaft zu allererst sich gegenseitig das gleiche Recht zusprechen, als Gleiche anerkannt und behandelt zu werden – und dass die Achtung der moralischen Gleich-heit Vorrang hat gegenüber allen Differenzierungen der Begabung, des Geschlechts, des gesell¬schaftlichen Rangs und der Hautfarbe. Eine Beziehung zwischen den Ausbildungspatinnen und -paten und den jungen Menschen auf gleicher Augenhöhe ist der Ausdruck dieses normativen Grundsatzes gleicher Gerechtigkeit.
Lächelnde Blicke haben eine verändernde, schöpferische Kraft. Sie schaffen neue Menschen, sehen junge Menschen mit den Augen Gottes an und schenken ihnen die Sympathie, mit der Gott einen jeden von ihnen ohne Rücksicht auf Talente und Elternhaus liebt: So hat es der Prophet Jesaja beschrieben: Fürchte dich nicht, du kleiner Wurm, ich habe dich erwählt und beim Namen gerufen, mein bist du. Ich ergreife deine Hand und mache dich stark. Das Dun-kel vor deinen Augen mache ich zu Licht. Selbst wenn Vater und Mutter dich verlassen, ich verlasse dich nicht. Ich habe deinen Namen in meine Hand geschrieben, mein bist du. Der sympathisch freundliche Blick der Patinnen und Paten ist wie der wohlwollende Blick Gottes des Vater und der Mutter, der/die nicht richtet und straft, sondern vergibt und barmherzig ist.

4. Einwände
Einwände und Gegeneinwände lassen sich bei derart schönen Reden, die an die Ausbil-dungspatinnen und -paten adressiert sind, leider nicht total unterdrücken. Werden Sie, die Patinnen und Paten als Alibi für eine missratene Berufsbildungspolitik missbraucht? Sind sie barmherzige Samariter auf unsicheren, von Räubern besetzten Straßen, hilfsbereite Sanitä-ter mitten im Wirtschafts- und Finanzkrieg, da sie die Verwundeten bergen, wieder herstel-len und an die Front zurück schicken? Trifft Bert Brechts einfühlsames und zugleich kritisches Gedicht zu, mit dem er das Bemühen eines sozial engagierten New Yorkers schildert, der an einem Winterabend vorüber laufende Passanten bittet, für den einen oder anderen Obdach-losen ein Nachtlager bereit zu stellen: „Einige Menschen haben ein Nachtlager. Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten. Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Stra-ße. Aber die Welt wird dadurch nicht anders. Die Beziehungen zwischen den Menschen bes-sern sich dadurch nicht. Das Zeitalter des Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt“?
Es gibt allerdings auch Gegeneinwände. Denn Bert Brecht lässt dieser Zeilenreihe die spie-gelverkehrte Zeilenreihe folgen. Will er damit andeuten, dass durch das persönliche Enga-gement eine Kehrtwende der finanzkapitalistischen Ausbeutung näher kommt? Wir Deutsche haben die Erfahrung einer friedlichen Revolution der Gebete und Kerzen, die Stacheldraht durchschnitten und eine Mauer mitten durch Deutschland zum Einsturz gebracht hat. Militärisch und ideologisch abgesicherte Systeme sind über Nacht zerbrochen, weil Men-schen aufgestanden sind und erklärt haben: „Es reicht uns jetzt“. Ehrenamtliche Arbeit und vertafelte Städte sind eben keine Alternative für das Versagen der politischen, wirtschaftli-chen und bürgerlichen Eliten.
Die Kanzlerin spricht von der Krise als Chance. Eine Krise wird jedoch nicht durch eine Politik des „Weiter so“ bewältigt, sondern nur durch einen radikalen politischen Neustart. Mit der Erinnerung an vergleichbare Krisen – 1973 und 1929 – sollte die Erinnerung an vergleichbare Aufbrüche, etwa 1948/49 und 1989 treten. So hat Papst Paul VI. die politische Grund-überzeugung der unmittelbaren Nachkriegszeit in ein Bekenntnis gegossen: „Nie wieder Krieg, nie wieder Diktatur, nie wieder Kapitalismus“. Das Ahlener Programm der CDU der britischen Besatzungszone erklärte 1947  in der Präambel: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Inhalt und Ziel der sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen des Volkes sein“. Papst Johannes Paul II. hat 1991 in einem Sozialrundschreiben gefragt: „Ist der Kapitalismus das einzige siegreiche Wirtschafts- und Gesellschafts-system, das die Anstren-gungen der Trans-formationsländer verdient und den Ent-wicklungsländern empfohlen wer-den kann?“ Seine Antwort lautet: Nein, wegen der menschlichen Defizite, die es erzeugt, nämlich Ausbeutung und Unterdrückung in den Entwicklungsländern und menschliche Ent-fremdung in den Industrieländern. Er sieht eine „menschliche Alternative“ darin, dass der Markt durch gesellschaftliche Kräfte und staatliche Organe sowie die Unternehmen als Orte freier Arbeit und Beteiligung geordnet werden. Zugleich spricht er eine Warnung aus: „Die  westlichen Länder laufen Gefahr, in dem Scheitern des Sozialismus den einseitigen Sieg ihres Wirtschaftssystems zu sehen und sich nicht darum zu kümmern, an diesem System die gebo-tenen Korrekturen  vorzunehmen“.

Ich gratuliere den Ausbildungspatinnen und Ausbildungspaten zu dem Preis, den die Heinrich Böll Stiftung Ihnen überreicht und wünsche Ihnen und uns allen, dass Sie mit Ihrem Engage-ment den Weg zu einem politischen Neustart der beruflichen Ausbildung jenseits des Fi-nanzkapitalismus ebnen.