Was Menschen zur Flucht bewegt - Globale Zusammenhänge und persönliche Einblicke

Alewa

Die Bilder aus dem Jahr 2015 werden vielen in Erinnerung bleiben: Geflüchtete auf dem Weg nach Europa vor überfüllten Bahnhöfen, in Schlauchbooten in Mitten des Mittelmeeres, zu Fuß irgendwo zwischen Serbien und Österreich und schließlich, der Nato-Draht an Ungarns Grenzen. Weltweit sind zurzeit laut UNHCR 65 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie noch nie zuvor. Nur die wenigsten von ihnen erreichen Europa, die restlichen leben in von dem UNHCR eingerichteten Camps in ihrem eigenen Land oder in Nachbarstaaten. Auf der Flucht vor Gewalt, Armut, Dürre, Perspektivlosigkeit und Kriegen nehmen die Menschen beschwerliche Wege auf sich, die sie durch lebensbedrohliche Regionen wie die Sahara oder das Mittelmeer führen –meistens schutzlos den Schleppern ausgeliefert. Die Fluchtursachen sind so divers und vielfältig wie die Geflüchteten und ihre Heimatregionen selbst. Die Frage, was Menschen genau zur Flucht bewegt, lässt sich deshalb nur schwer beantworten. Die Fachtagung „Was Menschen zur Flucht bewegt“ in der Alten Feuerwache am 27. August 2016 unternahm dennoch den Versuch und verschaffte den Teilnehmenden an diesem inhaltsreichen Tag einen Einblick in die diversen Fluchtursachen.

Nach einer musikalischen Einstimmung durch Living Stone, die mit ihrem Song „So many troubles in the world“ das gegenwärtige Weltgeschehen auf den Punkt brachten, standen zunächst die drei Regionen Westbalkan, Afrika und Naher Osten im Fokus. Durch sehr persönliche Einblicke in ihre Arbeit und Reisen in die Westbalkanstaaten brachte Iris Biesewinkel, ehemalige Mitarbeiterin des ROM e.V., den Teilnehmenden die schwierige Situation der Roma-Minderheiten in ihren Heimatländern nahe. Dabei problematisierte sie zum einen die Unterscheidung in „echte“ Geflüchtete und „Wirtschaftsflüchtlinge.“ Dadurch führe es zu einer Deklassierung einiger Geflüchteten-Gruppen wie den Roma. Des Weiteren kritisierte Iris Biesewinkel die Politik der Bundesregierung, in deren Konsequenz zahlreiche Staaten als „sichere Herkunftsländer“ klassifiziert wurden, obwohl die Fluchtgründe weiterhin bestehen. Auch Emmanuel Ndahayo, Doktorand an der Universität Siegen, knüpfte an diese Problematik in seinem Vortrag über die Fluchtursachen auf dem afrikanischen Kontinent an. Er stellte die These auf, dass afrikanische Geflüchtete keineswegs „Wirtschaftsflüchtlinge“ seien, sondern politische Geflüchtete im Rahmen der Global Governance. Darunter versteht er nationale Entscheidungen mit transnationalen Auswirkungen. Der Wohlstand des Globalen Nordens wurde durch Global Governance, mit der Konsequenz der Ausbeutung des afrikanischen Kontinents, erst möglich. Zudem wurden im Laufe der Zeit Institutionen wie der IWF oder die Weltbank geschaffen, welche diese Ausbeutung begünstigten.

Dr. Médard Kabanda (Universität Osnabrück und Fernuniversität Hagen) beschrieb anschließend die historische Entwicklung des Nahen Ostens vom wissenschaftlichen und kulturellen Zentrum im Mittelalter, reich an natürlichen Ressourcen, hin zu einer heftig umkämpften und wirtschaftlich in weiten Teilen abgehängten Region. Am Beispiel Syrien verdeutlichte er, wie nach dem Ende des klassischen Kolonialismus nach dem Zweiten Weltkrieg zentral autokratische Republiken kleine (Macht-)Eliten förderten und die Interessen der breiten Bevölkerung vernachlässigten. Der Unmut der Gesellschaft drückte sich in Protestbewegungen aus, wie wir sie im ganzen Maghreb im Jahr 2011 erlebten. Die Hoffnungen, die in den „Arabischen Frühling“ gesteckt wurden, wurden letztlich in vielen Ländern enttäuscht – zwar konnten die alten Machtcliquen vertrieben werden, doch änderte sich oftmals nicht viel an den bestehenden Strukturen. In Syrien hingegen reagierte das Regime auf die Proteste mit einem blutigen Bürgerkrieg gegen seine eigene Bevölkerung, der nun schon fast fünf Jahre währt.

 

Nach diesen schon sehr umfangreichen Inputs folgte der Blick auf die globalen Zusammenhänge und Akteur*innen. Der ehemalige Generalsekretär von Amnesty International Wolfgang Grenz stellte zunächst die aktuellen Zahlen des UNHCR dar. Über 65 Millionen Menschen befinden sich zurzeit auf der Flucht, dabei bleibt ein Großteil in den Heimatländern oder in den Nachbarstaaten und nur 4,4 Millionen Menschen erreichen Europa, wovon die Türkei 2,5 Millionen aufgenommen hat. Die „Genfer Flüchtlingskonvention“ von 1951 definiert aber nicht alle Menschen, die derzeit auf der Flucht sind, als Geflüchtete. Nur Menschen, die ihr Heimatland verlassen müssen, da dieses sie nicht schützen kann oder will, werden vom UNHCR als „Flüchtling“ erfasst. Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen fliehen, sprich Armut und Perspektivlosigkeit, gelten als Migrant*innen und bekommen daher nicht den internationalen „Flüchtlingsstatus“. Doch wurden bis 2014 in Deutschland viele Maßnahmen unternommen, die auch für Menschen ohne internationalen „Flüchtlingsstatus“ eine Verbesserung bedeutete. Doch seien diese, so bedauerte Wolfgang Grenz, als Reaktion auf die hohe Zahl an Asylanträgen im Laufe des Jahres 2015 weitestgehend wieder rückgängig gemacht worden. Auch Andreas Zumach, Journalist und UNO-Korrespondent der taz, prangerte das Versagen der internationalen Gemeinschaft seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien an, das er als das größte der letzten 30 Jahre bezeichnete. Der UNHCR sei auf den politischen und finanziellen Willen der Mitgliedsstaaten angewiesen. Nur 20% des Budgets werden über verpflichtende Abgaben der Mitgliedsländer gedeckt, die restlichen 80% hängen vom guten Willen der Staaten. Damit befände sich der UNHCR in einem steten Er-pressungsverhältnis. Im Jahr 2014 führte diese Situation zur Schließung zahlreicher Geflüchteten-Camps. Eine Podiumsdiskussion, moderiert von Iris Witt, Geschäftsführerin der Heinrich Böll Stiftung NRW, schloss den ersten Teil der Fachtagung ab. Dabei wurden Fragen der Teilnehmer*innen beantwortet.
 
Nach einer kurzen und heißen Mittagspause ging es weiter in die Workshops. In zweien standen die Fluchterfahrungen der Workshopleiter*innen im Fokus. Bintou Bojang und Avin Mahmoud (Jugendliche ohne Grenzen NRW) gaben im Workshop „Fluchtwege und –ursachen junger Frauen“ einen persönlichen Einblick in ihre eigenen Fluchterfahrungen aus Gambia bzw. Syrien. Dabei thematisierten sie eine Problematik, die auch in Deutschland oftmals untergeht: die spezifischen Fluchtursachen für Frauen. Auch der Workshop „Syrien – Leben in und Flucht aus einem Land im Krieg“, geleitet von Nidal Rashow, Bashar Abdo und  Myriam Sikaala (Eine Welt Netz NRW), basierte auf den persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen an die Flucht aus Syrien. Daneben präsentierten die zwei jungen Männer eine Umfrage, die sie unter Geflüchteten geführt haben und nach deren Meinung nach Deutschland fragte. Serge Palasie (Eine Welt Netz NRW) unternahm in seinem Workshop „Schwarz ist der Ozean – Was haben volle Flüchtlingsboote vor Europas Küsten mit Kolonialismus zu tun?“ einen Rückblick in 500 Jahre afro-europäische Geschichte, mit dem Ziel den Zusammenhang zwischen europäischem Wohlstand und der Ausbeutung Afrikas deutlich zu machen. Patrick Fels (Info- und Bildungsstelle gegen Rechtsextremismus Köln) bot in seinem Workshop „Rechter Hetze in Bezug auf Geflohene und Fluchtursachen begegnen“ den Teilnehmenden dahingegen konkrete Handlungsmöglichkeiten auf Anti-Asyl-Argumentation. Nachdem die Teilnehmer*innen gemeinsam die gängigsten Muster rechter Hetze enttarnt hatten, bot Patrick Fels sinnvolle Gegenstrategien, um dieser angemessen entgegnen zu können.
 
Einen sehr bewegenden Abschluss der Fachtagung machte die Initiative ALEWA, ein Zusammenschluss junger Frauen afrikanischen Ursprungs. In vier sehr persönliche Geschichten trugen sie die Fluchterfahrungen Geflüchtete*r aus Afrika vor. Die teils wahren, teils durch fiktive Komponenten erweiterten Berichte machten noch einmal die Vielfalt der Fluchtursachen deutlich.

Die Frage aus welchen Gründen Menschen fliehen, kann nur schwer beantwortet werden. Die Fachtagung „Was Menschen zur Flucht bewegt“ unternahm dennoch eine Annäherung durch Input-Vorträge und persönliche Fluchterfahrungen. Dabei standen drei Regionen im Fokus: Westbalkan, Afrika und der Nahe Osten. Ergänzt wurden sie durch eine Perspektive auf globale Zusammenhänge und Akteur*innen. In den Workshops konnte auf einzelne Aspekte noch spezifischer eingegangen werden. Viele Fragen, die im Zusammenhang mit diesem Thema aufkamen, konnten an dem einen Tag zwar nicht beantwortet werden, doch bilden sie eine Grundlage für weitere Veranstaltungen: Was bedeutet Flucht für die Geflüchteten? Wie sieht ihr Leben in den Zielländern aus? Welche Partizipationsmöglichkeiten haben sie? Wie können wir, die Gesellschaften der Zielländer, diese erweitern? Welche Handlungsmöglichkeiten haben wir, um Fluchtursachen aufzulösen bzw. einzuschränken? Was können wir hier vor Ort tun? Die Tagung bildete also einen Ausgangpunkt für weitere interessante und informative Veranstaltungen.
    
(Julia Brychcy, Praktikantin Heinrich Böll Stiftung NRW)

 

Weitere Eindrücke können gerne dem rechts oben angefügten Kommentar von Teresa Garschagen entnommen werden, die uns an dem Tag als freiwillige Helferin tatkräftig unterstützt hat.