Böll befragt ... Herbert Remmel (1 |17)

Herr Remmel, neun Jahre alt waren Sie, als die „Operation Shamrock“ (z. Dt.: Kleeblatt) Sie 1946 aus Köln  nach Dublin brachte. Wie kam es zu dieser Reise? 
Kurz nach Kriegsende wurden von einigen in Europa kriegsneutral gebliebenen Ländern (Schweiz, Schweden, Irland) sogenannte UNRRA-Hilfsaktionen für die besonders hart getroffenen Zivilbevölkerungen in Gang gesetzt.
In Irland entwickelte sich in der Bevölkerung spontan eine große humanitäre Hilfsbereitschaft, die letztlich dazu führte, dass das zu den ärmsten Ländern Europas zählende Irland von allen helfenden Ländern das höchste Spendenaufkommen erbrachte: Etwa zwölf Millionen Pfund Sterling (ca.70 Millionen Euro) in Form von materiellen Werten (Arznei- und Nahrungsmittel) und personeller Hilfen (Ärzten, Krankenschwestern) wurden von Irland als konkrete humanitären Hilfen eingebracht.
Zudem gab es in Irland individuelle Initiativen: Die Kinderärztin Kathleen Murphy etwa gründete die "Save the German Children Society". Die Idee war, vornehmlich eltern- und heimatlose deutsche Kinder nach Irland zu holen, die dort von irischen Familien für einen längeren Zeitraum (drei Jahre) aufgenommen werden sollten. Die Resonanz war so groß, dass die irische Regierung diese private Initiative regierungsoffiziell der Irischen Rotkreuz-Gesellschaft übertrug, die das Anliegen mit Energie vorantrieb - gegen den Widerstand etwa des britischen Hochkommissars. Letztlich war es aber geschafft und die von den Iren "Operation Shamrock" genannte Kinderhilfsaktion konnte starten. Am 26. Juli 1946 verließ vom Kölner Neumarkt aus der erste Kindertransport der Operation Shamrock (etwa 40 Kinder auf britischen Militär-Lkw) Deutschland in Richtung Irland, via Calais, London, Liverpool.Die Teilnahmebedingungen wurden dann nochmals präzisiert, so dass auch Kinder aus besonders schlechten sozialen Verhältnissen ebenfalls aufgenommen werden sollten. Bei mir war letzteres der Fall: Mutter stand vor einer damals lebensgefährlichen Operation, Vater war als Mitglied einer Kölner Widerstandsgruppe 1944 von der Gestapo verhaftet und im  April 1945 von den US Truppen aus dem Zuchthaus befreit worden. Aufgrund seines Gesundheitszustandes -  er war von der US-Army wegen den Lagerseuchen Typhus und Ruhr hospitalisiert worden -  war Vater nach seiner Entlassung noch arbeitsunfähig. Praktisch war unser familäres Unglück mein Glück, nach Irland gekommen zu sein.

Welche besonderen und prägenden Erlebnisse verknüpfen Sie mit Ihrer Zeit in Irland? 
Meine nahezu drei Jahre in Irland, zeitweilig adoptiert von einer Farmer-Familie in der Grafschaft Mayo im Westen der Insel, sind zweifellos die schönsten, interessantesten, abenteuerlichsten und aufregendsten Jahre meiner Kindheit - bei einfachster aber gesunden Lebensweise ohne elektrischen Strom, ohne fließendes Wasser und selbst ohne Toilette - nicht mal Plumpsklos gab es.
Das für mein späteres Leben wohl prägendste Erlebnis war die warme und freundliche Gastlichkeit, die uns von absolut wildfremden, eine andere Sprache sprechenden, anders gekleideten, anders wohnenden, überhaupt anders erscheinende Menschen entgegengebracht wurde. In meinem Büchlein über meine Kindheit in Irland schrieb ich, anlässlich meines Abschieds von Irland im Jahre 1949: "Wie arm war dieses Land ... als noch Tausende junge Iren ihre Heimat jährlich verließen, wie hart und wie dürftig das Leben der Menschen. Doch welcher Reichtum an menschlichen Werten ist diesem Volk der Iren eigen. Welch‘ Überschwang an Warmherzigkeit habe ich erfahren, welche Offenherzigkeit und Zuneigung, welche überwältigende Gastfreundschaft hatten diese Iren nicht nur mir gewährt. Obwohl gerade mal zwölf Jahre alt wurde mir auf diesem Schiff angesichts des sich immer weiter entfernenden Landes bewusst, dass ich dort drüben in Irland, im nun fernen Ballinlough im County Mayo, eine zweite Heimat hatte, in der ich tief verwurzelt war."

Einige Betroffene leben bis heute in Irland und haben dort ihr Leben gefunden. Wie kam es zu Ihrer Rückkehr nach Deutschland?
Meine dreijährige Aufenthaltsvorgabe für Irland wäre im Juli 1949 abgelaufen. Doch meine Eltern (und auch noch andere) wollten nicht länger von ihrem Kind getrennt sein, zudem war das Leben in Deutschland durchaus erträglich geworden. Sie baten beim Irischen Roten Kreuz um eine vorzeitig Rückkehr ihres Sohnes - und waren mit dieser Bitte nicht allein. Letztlich kam ein Transport von etwa 40 Kindern zusammen. Freude über die Rückkehr nach Deutschland ist mir nicht erinnerlich, die kam erst auf, als der Zug die Außenbezirke Kölns durchfuhr und das Wiedersehen mit Eltern und Bruder nahe war.
In Irland geblieben sind vornehmlich elternlose Kinder, oder, was auch vorgekommen ist, Kinder, deren Rückkehr von den Eltern nicht erwünscht war. Einige blieben mit Einverständnis der Eltern in Irland und wurden irische Staatsbürger.

Auch 2017 gibt es weiterhin viele Menschen auf der Flucht vor elenden Lebensbedingungen und Krieg, unter ihnen auch zahlreiche Kinder. Sollte es nach Ihren persönlichen Erfahrungen ein universelles Recht auf Flucht & Asyl geben?
Selbstverständlich: Jede Person sollte jederzeit das Recht haben, ihr Land freiwillig oder wegen Zwang und Verfolgung (oder auch aufgrund von Kriegen / Bürgerkriegen) zu verlassen und ungehinderte Aufnahme in einem Land seiner Wahl finden. Unabhängig von seiner religiösen oder weltanschaulichen Verfasstheit - wer in Leibesnot ist, dem muss geholfen werden.
Denn ich habe nun mal als Kind das erlebt, was heute Tausenden von Kindern verwehrt wird: Sicherheit und Geborgenheit, - und das ärgert mich ungemein. Deshalb: Asylgewährung sollte erst recht humanitäre und staatliche Pflicht sein.

Ab dem 3. Februar findet in der Kulturkirche Köln Ost eine Ausstellung zur Operation satt, in welcher ehemalige Shamrock-Kinder porträtiert werden. Weshalb lohnt sich ein Besuch unbedingt?
Wir Operation Shamrock Children sind doch der lebende Beweis, dass selbst unter ungünstigen nationalen Bedingungen (die Armut Irlands) Gastfreundschaft und Fremdenfreundlichkeit möglich sind.

Vielen Dank!

Weitere Informationen zur Ausstellung gibt's hier: http://calendar.boell.de/de/event/ausstellung-children-operation-shamro…