Heinrich VI: Laudatio bei der Verleihung

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Liebe Freundinnen und Freunde der Heinrich Böll Stiftung, liebe Hemeraner vom Förderverein Gesamtschule Hemer!
Als ich mich auf diese Rede vorbereitet habe, habe ich natürlich im Netz recherchiert, telefoniert und gebrütet. Aber mein Einstieg war mir sofort klar – als ich davon erfuhr, was ich Ihnen jetzt als Erstes mit auf den Weg gebe:
Vergesst bitte nie, lieber Förderverein Gesamtschule Hemer, wer Euch die erste Spende gemacht hat: Die Grünen Alternativen Hemer! 500 Euro! Die SPD war mal wieder etwas langsamer, und da kamen auch nur 322 Euro zusammen.Wenn ich Euro sage, ist schon mal klar, dass der diesjährige Preisträger nicht sehr alt ist. Der Euro zum Anfassen hat ja erst fast acht Jahre auf dem Buckel. Aber wie schnell der Förder-verein wirklich Erfolg hatte, ist schier unglaublich.
Die Grüne 500-Euro-Spende – ich werde sie noch öfter erwähnen heute Abend – gab es am 28.05.2008. Da hat sich der Förderverein also gerade erst gegründet. Angeregt – Sie werden es erraten – von den Grünen Alternativen Hemer. Und vor Ihnen, liebe Fördervereinsmitglieder, lagen damals ein Berg voller Anstrengung, ein Haufen Überzeugungsarbeit – und ein Batzen voll Spannung. Mich würde es schon interessieren, ob Sie das auch dann angepackt hätten, wenn Sie vorher die ganzen Hürden und Tücken gekannt hätten? Ratsmehrheit erringen, obwohl CDU und FDP die Mehrheit im Stadtrat haben. Einen CDU-Bürgermeister überzeugen. Einen Regierungspräsident und eine Schulministerin von der CDU dazu bringen, die Gesamtschule zu genehmigen.
Druck von der Straße erzeugen. Pressearbeit machen. Infoabende gestalten. Elternbefragung gewinnen. Ein Profil der Schule erstellen. Tatsächlich 112 Kinder für die neue Schule bekommen, davon ein Drittel mit Gymnasialempfehlung.

Und es ist wirklich kaum zu glauben: Sie haben alle Hürden genommen, die Gesamtschule ist da.

Die erste Hürde war eine Elternbefragung, im März 2008. Die wurde mit den Stimmen der GAL, der SPD und der CDU beschlossen. Also, alle Eltern von Kindern der Klassen eins bis drei in Hemer befragt – und sage und schreibe knapp zwei Drittel in allen Jahrgängen wollen eine Gesamtschule. In jedem Jahrgang deutlich mehr als die benötigten 112 Kinder!
Ist doch klar, ein Bürgermeister kann so ein Ergebnis schon ganz gut einschätzen. Der weiß ganz genau, dass er über das von ihnen vorbereitete Stöckchen einfach springen muss. War er vorher noch unentschieden, so war ihm spätestens nach der Befragung klar, wo die Gewinnerseite ist.
Besonders toll finde ich, dass die Eltern mitgestaltet haben. Wie soll die neue Schule ausshen? Welches Profil wollen wir für unsere Kinder? Alles auf den Info-Veranstaltungen gelaufen, protokolliert und eingebracht ins Schulprofil. Das ist ein lebendiges, gutes Beispiel für eine meiner persönlichen Philosophien, auch als Lehrerin: Nur wer Verantwortung bekommt, kann auch verantwortlich handeln. Deshalb ist es letztlich kein Wunder, dass es reichte. 186 Schülerinnen und Schüler wurden für die Schule angemeldet, 112 konnten nur aufgenommen werden. Was für ein Triumph!
Wie dicht Triumph und Niederlage manchmal zusammen liegen, haben Sie auch gelernt. Der Regierungspräsident gibt einer Ganztagsschule keine Chance – die CDU im Rat aber will keinen Halbtag. Ganz oder gar nicht. Oder: Ganz-Tag oder gar nicht.
Die Folge: Proteste, Demonstrationen, Wut und Tränen. Alle wollen Ganztag. Aber zur Not erst einmal den Halbtag. Die Folge: 4000 Unterschriften für die Gesamtschule.
Mit Erfolg: Auch die CDU stimmt der Halbtagsschule zu. Und alle verprechen sich: Wir setzen uns dafür ein, dass die Ganztagsschule noch kommt.
Auf jeden Fall war dann endlich sicher: Die Schule kommt. Nun, heute, besteht sie schon seit drei Monaten. Nur knapp ein Jahr und drei Monate nach der Gründung des Fördervereins startete die Ge-samtschule Hemer ihren Betrieb. Das ist schon ziemlich schnell ziemlich erfolgreich.
Wenn ich mir das so vor Augen führe, dann kann ich nur sagen: Chapeau! Sie haben ihren ganz persönlichen Wunsch nach einer Gesamtschule in politisches Handeln übersetzt.

Mit Hand, Herz und Hirn.

Und mit Hand, Herz und Hirn werden sie weiterkämpfen. Damit irgendwann – wieder möglichst schnell – der Ganztag kommt.
Und natürlich sind Grüne, in diesem Fall die grünnahe Heinrich Böll Stiftung, ganz vorne dabei, Sie auch auf diesem Weg zu unterstützen. Oder vor allem zu motivieren. Mit 500 Euro-Spenden, oder mit einer Ehrung. Natürlich bin ich da nicht ganz uneigennützig: Wir Grüne im Landtag setzen uns vehement dafür ein, auch Gesamtschulen den Ganztag zu ermöglichen. Aber – da bin ich sicher, dass sie das wissen – im Mai, da sind ja die Wahlen…
Der Heinrich-Preis würdigt nicht nur eine Einzelperson oder eine einzelne Initiative, er ist nicht nur als Motivation für die Preisträgerinnen und Preisträger gedacht. Der Heinrich ist mehr. Deshalb ist er auch eine Gießkanne. Er ist immer ein Signal. Für Ideen, die das Land erobern können und werden.
Bisher hat die Böll-Stiftung und ihre Jury immer richtig gelegen. Da gibt es etwa den Preisträger von 2007: Murat Vural und sein interkultureller Bildungs- und Förderverein für Schüler und Studenten.
Der hat sich nach Berlin begeben und dort andere instruiert und motiviert, das Gleiche zu tun: Junge Leute mit Migrationshintergrund fördern und begleiten noch jüngere Leute mit Migrationshintergrund – direkt an den Schulen. Oder die AusbildungsPaten Recklinghausen. Letztes Jahr Preisträger, dieses Jahr schon Übertragungsseminare – damit andere es nachmachen. Bei dem Förderverein Gesamtschule Hemer bin ich mir auch ganz sicher, dass er einer der ersten Tropfen aus einer riesengroßen Gießkanne ist. Nicht nur, weil es funktioniert hat – sondern weil es so richtig und so wichtig ist.

Längeres gemeinsames Lernen hat Zukunft, ist die Zukunft.

Ein kluger Schulentwicklungsforscher aus Dortmund, Dr. Ernst Rösner, hat das ziemlich eindrücklich beschrieben: Eltern wollen, dass ihre Kinder mindestens den gleichen sozialen Status erreichen, wie sie selbst.
Sprich: Der Automechaniker will, dass sein Sohn mindestens  Automechaniker wird. Und wenn der Auto-Mechaniker-Papa dazu früher den Hauptschulabschluss brauchte, muss der Auto-Mechaniker-Sohnemann dazu heute schon mindestens Mittlere Reife ereichen.
Für den gleichen sozialen Status braucht es heute einen höheren Schulabschluss. Auch deshalb stirbt die Hauptschule, deshalb gewinnen die Schulen, die möglichst lange alle Schulabschlüsse offenhalten – wie die Gesamtschule Hemer.
Und natürlich sind auch die Städte und Gemeinden daran interessiert. Beispiel Hemer. Zahlreiche Schülerinnen und Schüler sind jedes Jahr nebenan nach Iserlohn gegangen, weil es dort eine Gesamtschule gibt. Und vielleicht sind einige Familien gar nicht erst nach Hemer gezogen, so ohne Gesamtschule. Und vielleicht gibt es Unternehmen, die lieber in Iserlohn ansiedeln, als in Hemer. Weil das Schulangebot dort besser ist.
Was ich sagen will: Ein gutes Schulangebot mit allen Schulabschlüssen ist ein harter Standortfaktor.
Hinzu kommt: Es gibt immer weniger Kinder. Da lässt es sich in Städten wie Hemer einfach auf Dauer nicht finanzieren Hauptschule, Realschule, Gymnasium nebeneinander zu haben. Warum dann nicht eine Schule für Alle, die alle Schulabschlüsse ermöglicht? So ist eben nicht schon mit zehn Jahren der gesamte Lebensweg vorgezeichnet.
Aber in allererster Linie habe ich weder den sozialen Status, noch den Standortfaktor im Auge. Sondern die Kinder selbst. Und da sind die beiden Sprecherinnen des Fördervereins auch lebende Beispiele für Mütter, die sich um ihre Kinder sorgen.
Petra Schlottmann und Elke Huth, Sie und Ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter wollen als Mütter und Väter das, was ich als Politikerin will: Die beste Schule für unsere Kinder. Und da lese ich dann als pädagogisches Leitprinzip für das Lernen und Lehren an der Gesamtschule Hemer:
"Jedes Kind, das der Schule anvertraut ist, soll individuell, d.h. gemessen an seinen persönlichen Begabungen, Interessen und seinem Können gefördert und gefordert werden." Und das Ganze dann verwirklicht durch kooperative und soziale Lernformen.
Der Schule anvertraut! Das hört sich stark nach einer anderen Schulkultur an, einer Kultur der Wertschätzung und der Beteiligung. Das ist es doch, was letztlich gute Schulen – und ganz besonders Gesamtschulen – ausmacht. Das voneinander und miteinander leben und lernen.

Die Gießkanne des Preises ist aber aus einem weiteren Grund heute besonders passend: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass gute Schulen von unten wachsen – so wie Pflanzen: Sie wachsen, wenn sich Kinder, Eltern und Lehrerschaft gemeinsam – im Schulterschluss mit Dorf oder Stadt – für eine Schule engagieren, sie sozusagen gießen.
Diese Schulen werden und sind erfolgreich – deshalb setzen sie sich durch im Wettbewerb um die Kinder.
So entsteht ein Sog, eine Lawine, ein Erdrutsch: Indem die ersten sich auf den Weg machen, es wagen und probieren, es schaffen – und andere dazukommen.
Bei den Schulen beginnt die Lawine auf dem Land – weil der Druck größer ist. Deshalb auch der Satz "Wir lassen die Schule im Dorf". Aber die Lawine endet dort nicht.
Liebe Hemeraner,
Sie sind Vorreiter auf dem Weg zur neuen Schule. Und die Grünen Alternativen Hemeraner können stolz sein, die erste Spende für diese Vorreiter gemacht zu haben. Immerhin: 500, ach, Sie wissen es schon.
Und ich bin stolz und es ist mir eine Ehre, heute Heinrich den VI. für den Förderverein Gesamtschule Hemer proklamieren zu dürfen. Herzlichen Glückwunsch, liebe Hemeraner!