Heinrich IV: Rede bei der Preisübergabe

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Liebe Freundinnen und Freunde,
sehr geehrte Damen und Herren,

bei einer Oscar-Verleihung gäbe es jetzt ein bisschen mehr Glamour, ich wäre über einen roten Teppich gegangen, und das Ganze wäre in die ganze Welt übertragen worden. Hier ist das ein wenig anders: keine Luxuslimousinen, keine Designerkleider, keine Edel-Schnürsenkel. Denn es ist nun einmal leider so: In der Welt des sozialen Engagements steckt nicht ganz so viel Geld, wie in Hollywood. Aber statt ganz viel Geld, gibt es hier heute ganz viel Herz. Herz, das zum Beispiel Sefa Bal beweist in einem Berlin-Reisebericht, auf den ich gestoßen bin. "Ein bisschen Billard Unterricht für die, die es noch nicht so gut konnten, von denen, die es schon sehr gut beherrschten"
In diesem kleinen Satz von Sefa aus Klasse 12 über einen Abend in Berlin steckt ganz viel Herz. So einen Berlin-Abend kann ich mir ungefähr vorstellen. Da sind die 17- und 18-Jährigen unterwegs in Berlin, und am Abend im Hotel gibt's keine Zeit fürs Ausruhen. Sondern da wird der Billardraum des Hotels belagert. Aber: Meist stehen am Ende nur noch die Besten am Tisch und spielen gegeneinander. Scheint ganz normal zu sein. Das hat allerdings eine Konsequenz: Die Schlechteren bleiben schlechter, die Besseren werden noch besser.
Wie toll hört sich dann dieser Satz in den Ohren einer leidenschaftlichen gelernten Lehrerin wie mir an: "Ein bisschen Billard Unterricht für die, die es noch nicht so gut konnten, von denen, die es schon sehr gut beherrschten" Das ist individuelle Förderung: Wenn die Besseren den Schlechteren helfen. Und dann auch noch die Worte "schon sehr gut beherrschten" und "noch nicht so gut konnten". Daraus spricht die Hoffnung, dass die "noch nicht so Guten" besser werden. Da spricht heraus, dass die Besseren nicht neidisch bestaunt werden, sondern, dass sie Vorbilder sind, Vorbilder die gerne weitergeben, was sie können. Und es spricht eine allgemeine Wertschätzung Aller heraus. Denn im Gegensatz zu mir gerade, spricht Sefa nicht von den "Schlechteren", sondern von den "noch nicht so guten". Das werde ich mir merken, liebe Sefa!

Aber warum, meine Damen und Herren, stelle ich diesen Satz jetzt so in den Vordergrund? Weil die Berlin-Fahrt von Sefa nicht irgendeine war. Sondern weil sie organisiert wurde von dem Verein, den wir zusammen mit seinem Gründer und Vorsitzenden Murat Vural heute ehren dürfen. Und weil Sefa mit diesem Satz offenbart, dass sie den Leitgedanken dieses Vereins nicht nur verstanden hat, sondern ihn auch selber lebt.
Lieber Murat Vural, gemeinsam voneinander lernen, Spaß haben, erleben, sich aufgehoben und ernst genommen fühlen. Vielleicht kann das die Formel für gelungene Integration sein. Und Sie haben sie gefunden und mit Leben gefüllt. Weil Sie aus eigenem Leiden, aus eigener Erfahrung Leidenschaft entwickelt haben. Leidenschaft für Ihren "Interkulturellen Bildungs- und Förderverein für Schüler und Studenten (IBFS)". Sie haben ihn gegründet, weil Sie nicht vergessen haben, wo Sie hergekommen sind. Sie hatten Probleme in der Schule, mit der Sprache. Behaupten selbst heute noch: "Es könnte immer noch besser sein". Aber trotz der Sprachschwierigkeiten sind Sie was geworden. Ein Diplom-Ingenieur, der promoviert. Ein Vereinsvorsitzender, der integriert. Ein Macher, der … macht.
Sie sind ein echtes Ruhrgebietskind. 1975 geboren in Herne als Sohn eines Bergarbeiters. Ich glaube kaum, dass Sie als vierjähriger Knirps, der eigentlich so gut wie kein Deutsch konnte, mitbekommen haben, wie Castrop-Rauxel den Theodor-Heuss-Preis für beispielhaftes Enga-gement um die europäische Verständigung und die Bemühungen um Europa bekommen hat. Ich erwähne das, weil in Castrop-Rauxel die erste von Ihnen unterstützte Schule steht. Kein schlechter Ort, um ein großartiges Integrationsprojekt zu starten, um einen Verein zu grün-den, der sich zum Ziel gesetzt hat, Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu zeigen: "Auch Du kannst hier etwas erreichen." Nichts ist demotivierender als vermeintliche Aussichtslosigkeit. Nichts ist motivierender als zu merken, es ist nicht aussichtslos.
Murat Vural gründete also 2004 in Castrop-Rauxel den Verein IBFS. Gegründet von einem Sohn des Ruhrgebietes, der sich vielleicht nicht immer so fühlte. Mal war er doch wieder in der Türkei mit seiner Familie, und hier in Deutschland hatte er große Schwierigkeiten. Mit der Schule, mit der Sprache. Die Mathematik hat ihm Mut gegeben, ihn aufgerichtet. Und:Murat, Sie haben es geschafft.

Und ich freue mich, dass Ihre Frau und Ihr Sohn heute auch hier sind.
Murat, Sie haben etwas aus sich gemacht. Sie sind Diplom-Ingenieur am Lehrstuhl für Theoretische Elektrotechnik, Sie arbeiten an Ihrer Doktorarbeit. Sie sind everybodys darling, weil man gar nicht anders kann, als Sie zu mögen. Sie haben Ihre Herkunft und Ihre Kindheit nie vergessen, sondern sie zu Ihrer Lebensaufgabe gemacht.
Vielleicht haben Sie gedacht: Ich bin einer von viel zu Wenigen! Einer von viel zu Wenigen, die in Deutschland die Bildungsleiter immer weiter nach oben erklimmen. Einer von viel zu wenigen Türken. Einer von viel zu wenigen Menschen mit Migrationshintergrund. Einer von viel zu wenigen Menschen, die es geschafft haben, die soziale Benachteiligung zu überwinden. Und ich will meinen persönlichen Erfolg nicht für mich alleine. Vielleicht haben Sie sich das gedacht. Aber eines ist sicher: Egal, was Sie gedacht haben, Sie haben was gemacht. Sie haben auf die Beine gestellt, dass Kinder und Jugendliche mit der ehrenamtlichen Hausaufgabenhilfe, mit der ehrenamtlichen Betreuung und Motivation, mit der ehrenamtlichen Bildung erleben, dass was geht in diesem Land. Die Kinder und Jugendlichen lernen das von Vorbildern, die genau das Gleiche durchgemacht haben. Und wenn die das geschafft haben, dann schaffe ich das auch – mit deren Hilfe. Das denken viele von den von Ihnen Betreuten, da bin ich mir sicher.

Und, Murat, Sie sind nur das erste von vielen Vorbildern. Denn mittlerweile helfen die ersten von Ihnen betreuten Jugendlichen selbst mit und geben Nachhilfe. Was für ein schöner Schneeballeffekt.
Sie und Ihr Verein, Sie sind niemals stehen geblieben. In dreieinhalb Jahren haben Sie sich stetig vergrößert und immer mehr gemacht. Nach anfänglicher Skepsis sind die Rektorinnen und Rektoren mittlerweile froh und dankbar für die Arbeit von Ihnen und Ihrem Verein. Ich bin überzeugt: Viele Schulleitungen im Ruhrgebiet warten schon auf einen Anruf von Ihnen!
Denn: Die Schülerinnen und Schüler konnten ihre Leistungen verbessern, sie sind nicht mehr mut- und hoffnungslos. Sie setzen sich Ziele, wie Ausbildung und Abitur, und setzen diese Ziele in die Tat um - mit Hilfe von Dir und Deinem Verein. Und die Schulleiterinnen und Schulleiter sitzen nicht mehr nur in Castrop-Rauxel, sondern auch in Herne, Gelsenkirchen, Bochum, Schwerte. Bald auch in Dortmund, Bielefeld, Witten und Recklinghausen.
Wer wissen will, was der IBFS ist, der stößt auf der Internetseite des Vereins auf viel Interessantes. So reicht mein Bildschirm nicht mehr aus, um alle Überschriften aus der Presse zu sehen. Und ich habe einen großen Bildschirm. Auch finde ich dort, dass IBFS in diesem Jahr einer von 365 Orten der Ideen ist. Oder aber, dass die Sparkassenstiftung Geld gegeben hat. Oder dass der IBFS 2005 Bundessieger beim StartSocial Bundeswettbewerb geworden ist. Und ich finde die Zusammenarbeit mit Ashoka. Murat ist seit 2006 Social Entrepreneur und kann sich nun ganz der Arbeit für seinen Verein widmen. Denn Ashoka unterstützt Menschen, die eine soziale Idee haben, hinter der sich die Kraft zum gesellschaftlichen Wandel verbirgt. Und diese Organisation will diesen Menschen eine Chance geben, ihre Idee zu verwirklichen und zu beweisen, dass es geht.
Weshalb ich das so ausführlich erläutere? Weil sich bei Ashoka ein wichtiger Grundsatz findet: Ashoka investiert in Menschen. Ashoka geht von einem Ansatz ähnlich dem des Venture Capitals aus: Ashoka glaubt, dass die Person hinter einer Idee entscheidend ist, diese durch-zusetzen. Murat Vural ist entscheidend. Für seine Idee, für seinen Verein, und mittlerweile für ganz viele benachteiligte Kinder und Jugendliche. Und, so bin ich mir sicher, bald für noch viel mehr Kinder und Jugendliche im Ruhrgebiet. Nicht nur für Migrantenkinder, sondern für alle Benachteiligten. Weil er den Wunsch, den Willen und die Fähigkeit hat, seine Idee so breit umzusetzen, wie möglich. Diesen Schneeballeffekt wünsche ich mir und uns.
Ohne Murat Vural gäbe es den IBFS nicht. Durch ihn sind, das sage ich als Lehrerin natürlich gerne, weniger Schülerinnen und Schüler durch das Sieb gefallen, das unser selektives Schulsystem leider ist. Ohne ihn gäbe es weder eine sensationell gute Idee noch ihre Ausführung. Eine Idee, die für Integration, Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit sorgt.
Ich bin Ihnen bei der Sommerakademie begegnet. Und ich fand das schon toll. Da zeigt ein Türke den Deutschen, wie man sich einfach auf den Weg macht. Als ich Ihnen zugehört habe, habe ich mich an meine Erfahrungen beim Werben für die selbstständige Schule in NRW erinnert. Und ich habe gedacht, den hättest Du damals gut brauchen können bei Deinem Kampf gegen deutsche Paragraphen und Behördendschungel. Sie sind so unkompliziert und signalisieren so viel Aufbruch. Das ist schon fast wie eine späte Antwort auf die berühmte Ruck-Rede von Roman Herzog. Allerdings habe ich meine Zweifel, dass er dabei an die Migranten gedacht hat.

Dafür, dass es Sie gibt, Murat Vural und IBFS, und dafür dass Sie das gemacht haben, was Sie
gemacht haben, und dafür, dass Sie so weiter machen, überreiche ich Ihnen heute stellvertretend für alle, die von Ihnen bisher profitiert haben, den Heinrich. Und ein Heinrich ist mehr wert als zehn Oscars. Denn die Gießkanne steht für die Lebenskraft, die Sie ausgießen über Ihre Mitmenschen. Und Besseres kann niemandem geschehen.
Herzlichen Glückwunsch, Murat Vural. Herzlichen Glückwunsch IBFS.