Kolonialismus und Kolonialrevisionismus: Grüner Salon Mönchengladbach

Veranstaltungsbericht

Am 17. Oktober war Prof. Dr. Marianne Bechhaus-Gerst zu Gast im Grünen Salon Mönchengladbach und sprach über die die Kolonialgeschichte der Städte Mönchengladbach und Rheydt.

Referentin Marianne Bechhaus-Gerst und Moderator Peter Brollik, Grüner Salon am 17.10.2022

Die Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte der heutigen Stadt Mönchengladbach, hervorgegangen aus den zur Kolonialzeit noch selbstständigen Städte München-Gladbach, Rheydt, Odenkirchen und der Gemeinde Wickrath ist nicht neu. Daran erinnerte Peter Brollik, Koordinator des Mönchengladbacher Grünen Salons, in seiner Anmoderation für die Kölner Wissenschaftlerin Marianne Bechhaus-Gerst (*1958 in Rheydt).

Mehrere Jahre hinweg hatten sich Bürgerinitiativen, die Geschichtswerkstatt Mönchengladbachs, politische Organisationen wie die Grünen vor Ort, darum bemüht, eine 1935 nach Paul Emil von Lettow-Vorbeck benannte Straße umzubenennen. Lettow-Vorbeck, auch bekannt geworden durch sein Buch „Heia Safari“, war zwischen 1904 und 1906 in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem späteren Namibia, am Völkermord an den Nama und Herero beteiligt, kämpfte in Deutsch-Ostafrika während des Ersten Weltkriegs, nahm 1920 am Kapp-Putsch teil und betätigte sich als Propagandist/Publizist des Kolonial-Revisionismus im Dritten Reich. Noch bis weit in die 1960er Jahre war der Kolonialgeneral Namensgeber für Bundeswehr-Kasernen.

Vorstöße in der Kommunalpolitik der Stadt zu einer Umbenennung fanden lange Zeit keine Mehrheit. Erst nach Anerkennung des Völkermords durch die Bundesregierung am 28. Mai 2021 erfolgte eine Umbenennung der Straße in ihre alte Bezeichnung „Am Rosengarten“.

Die Afrikanistin und Historikerin Marianne Bechhaus-Gerst, die selbst an ihrem Lebensmittelpunkt in Köln mit dem komplexen Thema Erinnerungskultur engagiert ist, fügte in ihrem Vortrag zahlreiche historische Fakten ihrer Forschung dieser Dimension lokaler Geschichte hinzu. Der umfassenden und meist im Fokus stehenden Nationalgeschichte gilt es demnach eine aufschlussreiche Ebene der Regional- und Lokalgeschichte hinzuzufügen. Chronologisch unterschieden werden kann hier zwischen der Verstrickung in internationale koloniale Praktiken vor Beginn der Reichsgründung 1871, der eigentlichen kolonialen Politik Deutschlands bis 1919, beendet durch den Versailler Friedensvertrag und dem aktiven Kolonialrevisionismus bis 1943, der eine Rückgabe der verloren gegangenen Kolonien, schon während der Zeit der Weimarer Republik, forderte.

Ausschlaggebend waren für die lokalen Aktivisten, die die Aneignung von Kolonialbesitz forderten, ökonomische Interessen, insbesondere der nicht zuletzt auf Baumwolle basierenden Textilindustrie. In den Städten Rheydt und München-Gladbach bildeten sich Lokalabteilungen der Deutschen Kolonialgesellschaft (vormals Deutscher Kolonialverein und Deutsche Gesellschaft für Kolonisation), zumeist besetzt mit Angehörigen des gehobenen Bürgertums, bestehend aus Industriellen, Juristen, Militärangehörigen und Lehrern, zum Teil bis heute bekannte Namen in der Stadt. Eine wichtige Rolle zur Gewinnung neuer Mitglieder spielten lokale Vorträge von Referenten, die als Fachleute auftraten.

Veteranen der Schutztruppen in Afrika und China bildeten auch in München-Gladbach, Rheydt und Umgebung ab 1907 Vereine. Die ehemaligen Kolonialkrieger hatten vor allem bei der Niederschlagung des Widerstands der einheimischen Bevölkerung gegen die unrechtmäßige Aneignung ihrer Gebiete durch die Deutschen mitgewirkt. Besonders verheerend für die heimische Bevölkerung Deutsch-Ostafrikas war der Maji-Maji-Krieg von 1905 bis 1907, der – trotz seiner hohen Opferzahlen – noch nicht in einem mit Namibia vergleichbaren Maße in Deutschland aufgearbeitet und erinnert wird.

Der Kolonialrevisionismus beginnt sichtbar in Rheydt mit der Neugründung der Lokalabteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft im Jahr 1926. Nach 1933 folgte der Reichskolonialbund auf die Deutsche Kolonialgesellschaft und andere koloniale Vereinigungen.  Die von der NSDAP weitgehend unabhängige Organisation gewann über 2.000.000 Mitglieder und unterstütze durch vielfältige Maßnahmen den Kampf um die Rückgewinnung der verlorenen Kolonialgebiete. Die administrativ durch Martin Bormann verfügte Auflösung des Bundes 1943 wurde mutmaßlich in Folge der Entwicklungen an der Ostfront, insbesondere in Stalingrad, verfügt.

Als drittes Thema stellte Marianne Bechhaus-Gerst die Völkerschauen vor, die in München-Gladbach und Rheydt zu Gast waren. Publikumsanreiz war dabei nicht nur das Motiv der Fremdheit an sich. Drei Frauen aus Amerika mit Mikrozephalie gastierten 1906 als „Die letzten drei weiblichen Azteken“ in Rheydt. 1911 besuchte „Die weiße N[…]“ Amanoua Kpapo, eine Albina, die Stadt. Die als exotisch erlebte Herkunft wurde durch teils fiktive Elemente noch überhöht, mit Gruselelementen und erotischer Freizügigkeit vermischt. Äußerst aufwendig und umfangreich waren dabei „Hagenbeck’s Völkerschau Indien“, auf 10.000 Quadratmetern bebauter Fläche und „Buffalo Bill’s Wild West“ von 1906 mit weltumspannenden ethnografischen Sujets, wie den zu erwartenden „tapferen Rothäuten“, aber auch „Beduinen“, „Kosaken“ und „japanischen Samurais“, mit einer Besatzung von angeblich 800 Männern und 500 Pferden. Eine besondere Erwähnung fand hier auch der togolesische Impressario Nayo (J. C.) Bruce, der mit seiner Truppe in eigener Regie durch Europa tourte und Angehörige in bedeutenden europäischen Kirchen taufen ließ, so im März 1903 acht von ihnen im Kölner Dom. Ebenfalls relevant die im Sinne deutscher „Tugenden“ positiv gestimmte Rezeption der „Somaliaschauen“, die Sauberkeit, Schönheit und Intelligenz ihrer Teilnehmer*innen als ethnische Qualität hervorhoben.

Den Ausblick widmete die Referentin der aktuellen Situation, etwa den Protesten gegenüber materiellen Zeugnissen, die mit der kolonialen Geschichte verbunden sind, wie den Denkmälern an der Kölner Hohenzollernbrücke. Ihre Forderung: Den Staat, die Stadt und das Denken zu dekolonialisieren, im Sinne einer angemessenen Erinnerungskultur.

In der folgenden Diskussion stellten die Teilnehmer_innen des Abends eine Reihe offener Fragen. Welche Rolle spielte die Arbeiterschaft als gesellschaftliche Gruppe im Kolonialismus? Welche Menschenbilder schufen die Völkerschauen bei ihren Besucher_innen und wie wirken diese bis heute fort? Wie profitierten die ortsansässigen Unternehmen konkret von den Kolonien? Welche Bedeutung hatten die Kirchen, etwa in Form der katholischen und protestantischen Mission? Wie verhält sich der europäisch-imperiale Kolonialismus zu seinen gegenwärtigen Formen, im Sinne eines Neokolonialismus? Wie sah das Leben aus den Kolonien stammender deutscher Mitbürger*innen im Kaiserreich und danach aus?

Moderator Peter Brollik verwies hinsichtlich der biografischen Komponente auf den Roman „Afterlives“ von 2020 (deutsch „Nachleben“ 2022) des aus Tansania stammenden Literaturnobelpreisträgers des Jahres 2021, Abdulrazak Gurnah. Der Autor verwendete in seinem Text über afrikanische Leben im einstigen Deutsch-Ostafrika im Übrigen Forschungsergebnisse der Vortragenden Marianne Bechhaus-Gerst.

Mit dieser Auftaktveranstaltung startet eine Reihe unterschiedlicher Angebote zum Thema Erinnerungskultur. So folgt im November 2022 die Postkolonial-Aktivistin Tina Adomako mit der Fragestellung „Kolonialismus – ein Thema von gestern?“
 

Einen vertiefenden Einblick in die Kolonialgeschichte des heutigen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen ermöglicht eine Publikation der Herausgeber*innen Marianne Bechhaus-Gerst, Stefanie Michels und Fabian Fechners mit dem Titel „Nordrhein-Westfalen und der Imperialismus“ im Metropol Verlag Berlin: ISBN: 978-3-86331-654-9, 484 Seiten, E-Book/PDF, 29,00 Euro.
 

Es handelte sich um eine Gemeinschaftsveranstaltung von: Heinrich Böll Stiftung NRW, Grüner Salon Mönchengladbach, Volkshochschule Mönchengladbach, Geschichtswerkstatt Mönchengladbach.