Das Prinzip Partizipation

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Impuls von Prof. Dr.Regina Kreide

Sehr geehrte Damen und Herren,
recht herzlichen Dank für die Einladung und die freundliche Begrüßung. Ich freue mich sehr, hier sein zu können, zumal es mein erster Besuch in Dortmund ist.

‚Prinzip Partizipation‘, das Thema des heutigen Abends, klingt nach Aufruf. Und in der Tat geschieht etwas in unserer Gesellschaft. Sie ist in Aufruhr. Bürgerinnen und Bürger, die bislang politisch noch nicht in Erscheinung getreten sind, gehen auf die Straße, protestieren,  werden zu Rebellen. Die Proteste gehen in alle Richtungen und es ist schwer zu sagen, ob diese nun ‚links‘ oder ‚rechts‘ einzuordnen sind. Demonstriert wird gegen Atomkraft, gegen die verlängerte Grundschule, aber auch gegen und für das Rauchverbot, gegen und für Sarazzin, gegen und für Stuttgart 21. Einige sehen bereits das Ende der Demokratie gekommen. Für andere sind die öffentlichen Versammlungen und Demonstrationen ein hoffnungsfrohes Zeichen für eine Wiederaneignung der Politik durch die BürgerInnen.  Ist es das Ende oder ein Neuanfang der Demokratie? Wie ist es um unsere Demokratie bestellt? Und wie ist in diesem Zusammenhang das ‚Prinzip Partizipation’ zu verstehen? Diesen Fragen möchte ich heute in sieben Thesen nachgehen. Lassen Sie mich mit einigen diagnostischen Beobachtungen beginnen.
Erste These: Es besteht eine Distanz der BürgerInnen zur Politik und, vice versa, eine Distanz der Politik gegenüber BürgerInnen.
Zunächst zur ersten Hälfte der These. Bürgerinnen und Bürger sind von der Politik zunehmend entfremdet. Ein Indikator dafür ist der verbreitete  Eindruck in der Bevölkerung von wachsender, gesellschaftlicher Ungerechtigkeit. Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahre 2007 werden Kinderarmut, zu hohe Besteuerung von Geringverdienern und Steuerschlupflöcher als  ungerecht gewertet. Und nach Aussage einer Emnid-Umfrage aus dem Jahre 2008 bewerten mittlerweile 82% der Deutschen das Steuersystem als ungerecht, 81% die Einkommensverteilung, 73% das Rentensystem und 65% das Gesundheitssystem (http://de.statista.com/). Dabei handelt es sich keineswegs um eine Neiddebatte. Vielmehr zeigt die Untersuchung, dass die BürgerInnen durchaus zwischen leistungsbezogenem Einkommen und nicht-leistungsbezogener Entlohnung unterscheiden und der Ansicht sind, dass Viele, obwohl sie hart arbeiten, zu wenig Lohn erhalten. Ein weiteres Indiz für die wachsende Entfremdung zwischen BürgerInnen und Politik ist das schwindende Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der Demokratie. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahre 2008 verdeutlicht, dass vor allem Arbeitslose und Hartz IV-EmpfängerInnen mit der Demokratie unzufrieden sind. Ein Drittel von ihnen ist der Meinung, dass mit den Mitteln der Demokratie die dringenden Probleme, vor denen wir in Deutschland stehen (wie Arbeitslosigkeit, eine gerechte Renten- und Gesundheitsversorgung), nicht gelöst werden können. Die Unzufriedenheit hat also auch etwas mit der sozialen Stellung zu tun. Arbeitslose und Hartz IV-EmpfängerInnen fühlen sich im besonderen Maße nicht mehr repräsentiert – aber eben nicht nur sie. Und das ist ein neues Phänomen.
Die Abkehr von der Politik ist durchaus erstaunlich, denn es wird viel davon gesprochen, dass sich BürgerInnen für das Gemeinwesen engagieren sollen. Und das tun sie auch. Die Menschen sind keineswegs unpolitisch. Das belegt auch die jüngste Shell-Studie (2010). Unkonventionelle Formen der Partizipation haben Konjunktur: Mediationsverfahren, Runde Tische, Planungszellen sind zum festen Bestandteil des politischen Willensbildungsprozess geworden. Doch offensichtlich besteht eine Lücke zwischen dem Willem zum Engagement und dem tatsächlich Einfluss auf politische Entscheidungen. Es ist dieses Ohnmachtsgefühl, das der Distanz der BürgerInnen von der Politik Ausdruck verleiht.
Die voranschreitende Entfremdung der BürgerInnen von der etablierten Politik ist für die Politik hingegen recht praktisch. Sie gibt den politischen Akteuren die Möglichkeit, freier, schneller und ohne lange Diskussion und Kontrolle zu entscheiden. Und sie lässt die Politik als ein von der Lebenswelt der BürgerInnen abgekoppeltes System erscheinen. Anzeichen für eine  Verselbstständigung der Politik gibt es viele. So ist es beispielsweise in den letzten Jahren zu einer vermehrten ‚Privatisierung‘ der Gesetzgebung gekommen. ExpertInnen aus Wirtschafts- und Finanzunternehmen nehmen Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse, etwa bei der Umstrukturierung des Renten- und Gesundheitssystems, des Sozialstaates und der Finanzmärkte. Die ‚Intiative Finanzstandort Deutschland‘ (IFD), die nach eigenen Angaben die größte und umfassendste Initiative der deutschen Finanzwirtschaft ist und zu deren 24 Mitgliedern neben der Deutschen Bank, der Commerzbank und Morgan Sachs auch das Finanzministerium gehört, hat maßgeblich zur Einführung der Credit Default Swaps (CDS) beigetragen, jener neuen Art der Kreditausfallversicherung, die die Haftung der Banken im Finanzgeschäft radikal minimiert und mit zur Finanzkrise beigetragen hat. Dieses Instrument wurde nicht durch eine parlamentarische Debatte öffentlich diskutiert und durch eine Gesetzesregelung beschlossen, sondern unter Ausschluss der Öffentlichkeit und durch die Hintertür auf den Weg gebracht (Bode/Pink 2010, 50). 
Die Distanz der BürgerInnen von der etablierten Politik und die der Politik von den BürgerInnen verweisen aufeinander und sind ein sich wechselseitig verstärkender Prozess. Wie aber lassen sich diese bislang rein diagnostischen Einschätzungen erklären? Und was folgt daraus für die Partizipation?  Das führt mich zu meiner kurzen zweiten These.
Zweite These: Das ‚Prinzip Partizipation’ umfaßt soziale und politische Partizipation.

Partizipation ist vielgestaltig, aber zwei Facetten der Partizipation möchte ich heute besonders betonen: die soziale und die politische Partizipation. Während soziale Partizipation den gleichberechtigten Zugang zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beschreibt, unabhängig von der Position des Einzelnen am Arbeitsmarkt, zielt die politische Partizipation auf die gleichberechtigte Teilnahme an öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozessen. Man kann die oben geschilderten Phänomene nur verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass und wie soziale und politische Partizipation zusammenhängen. Ich werde zunächst die soziale Partizipation erlätuern.
Dritte These: Soziale Partizipation bemisst sich an der ‚Selbstintegration’ in den Markt.

Der Wohlfahrtstaates in Deutschland und mit ihm die Vorstellung von sozialer Partizipation hat sich im letzten Jahrzehnt entscheidend verändert. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand der keynesianische Wohlfahrtsstaat vermittelnd zwischen Demokratie und Wirtschaft.  Der Staat sprang beispielsweise ein, um negative Folgen des kapitalistischen Marktgeschehens, wie Massenentlassungen und Versorgung im Alter, durch Sozialprogramme aufzufangen. Die Lebenslage des Einzelnen wurde zumindest teilweise von der Marktposition entkoppelt. In der Soziologie wird dies als ‚Dekommodifizerung’ bezeichnet (Esping-Andersen 1989): ein Gradmesser dafür, inwieweit man auch unabhängig vom Arbeitsmarkt am gesellschaftlichen Leben partizipieren kann. Dahinter steht die Einsicht, dass soziale und politische Partizipation dann besonders gut funktionieren, wenn die ArbeitnehmerInnen materiell einigermaßen abgesichert sind. 
Jedoch hatte die Ausweitung der Sozialprogramme (Arbeitslosen-.Kranken-, Rentenversicherungen, Sozialhilfe) hatte jedoch auch Nebenfolgen. Sie führte zu einer erweiterten Staatstätigkeit, da Ansprüche katalogisiert, Ein- und Auszahlungen verwaltet und die Rechtmäßigkeit der Anspruchszahlungen kontrolliert werden mussten. Der Wohlfahrtstaat trug maßgeblich, so wurde recht bald kritisiert, zur Normierung des Arbeitslebens und zur Normalisierung der Erwerbsbiographie bei: wer volle Ansprüche auf Arbeitslosen-, Kranken,- Rentenversicherungen erlangen wollte, musste eine Vollzeitstelle bekleiden und seine Lebensplanung dementsprechend ausrichten. Meist waren es Männer, die als Hauptverdiener in das ‚Erwerbsschema’ passten (Mückenberger 1990, 158-178), während Frauen aus paternalistischen Gründen (z.B. Nacharbeitsverbot für Frauen) durch einige wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen benachteiligt wurden.                                                                                                                                                                                          
Inzwischen befinden wir uns im ‚Nachmittag des Wohlfahrtsstaates’ (Vogel 2004, 36-55). Schon Ende der 1970er Jahre ging als Folge der Ölkrise dem Wohlfahrtsstaat, Wort wörtlich gesprochen, der Sprit aus. Und inzwischen hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Statt im Wohlfahrtstaat leben wir nun in der ‚Aktivierungsgesellschaft’  (Koch et al 2004, 419-440; Lessenich 2009, 126-180).  Leitprinzip des neuen Paradigmas ist nicht mehr die materielle Kompensation dafür, dass man keinen Arbeitsplatz hat und nicht für sich selbst und seine Familie sorgen kann. Vielmehr steht nun die Verantwortung des Einzelnen im Vordergrund. Jeder muss selbst dafür Sorge zu tragen, sich in den Markt zu integrieren. Von Seiten des Staates gibt es zwar Hilfestellungen für die Marktanpassung, vom Individuum jedoch wird erwartet, aktiv zu werden und alles tun, um sich ökonomisch in das Arbeitsleben einzufügen. Gelingt dies nicht, hat der Einzelne versagt, nicht der Staat. 
Vierte These: Diese Entwicklung führt zur Ökonomisierung sozialer Beziehungen und des Subjekts.
Dem Einzelnen wird nicht nur zugemutet, seine Lebensplanung unabhägig der sozialen Umstände zu verantworten, sondern seine Aktivitäten so auszurichten, dass sie sowohl im Einklang mit ökonomischen Anforderungen stehen als auch Vorstellungen der Gemeinschaft bedienen. Jeder ist aufgefordert, dem anderen nicht ‚auf der Tasche zu liegen’, sondern tätig zu werden, sich zu engagieren und präventiv gegenüber möglichen zukünftigen misslichen Situationen zu versichern (Lessenich 2009, 126ff). Während noch in den 1970er Jahren die Vorstellung vorherrschte, aus seinem Leben ein Kunstwerk machen zu können (Michel Foucault), ist nun die Prämisse, aus seinem Leben ein ‚Projekt’ zu machen, das sich vermarkten lässt, das sich den externen Anforderungen des Marktes andient und das dann ausschließlich nach Maßgabe des ökonomischen Erfolgs bewertet wird. 
Sicherlich finden nicht Wenige durchaus auch Gefallen an einem mobilen, effizienten und karriereorientierten Lebensstil – aber nur, falls man zu denen gehören, die auf der Gewinnerseite stehen und nicht unglücklicherweise jener Gruppe angehört, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage ist, dem Marktimperativ in allen Lebenslagen nachzukommen. Zudem haben interessanterweise die Aktivierungsprogramme nicht dazu geführt, dass – wie man vermuten könnte - die Regelungsdichte und damit die staatliche Verwaltungstätigkeit abgenommen hätte. Vielmehr, so zeigen neuere Untersuchungen, ist der Staat durch ein dichtes Netz an Kontrollen von Arbeitslosen und BezieherInnen von ALG 2 präsenter denn je (Bernhard Vogel 2004) und auch geschlechtsspezifische Rollenzuschreibungen gehören keineswegs der Vergangenheit an. Nun werden Frauen als Akteure der Vereinbarkeitsproblematik von Familie und Beruf entdeckt und es entstehen neue Kriterienkataloge, die dem Subjekt konkrete Verhaltenserwartungen auferlegen. 
Natürlich kann man einwenden, dass der Zuwachs an Selbstverantwortung eben die Kehrseite eines Autonomiegewinns ist, der sich in der Aktivierungsgesellschaft einstellen soll. Doch erstens, so haben wir gesehen, kann von weniger Bevormundung durch den Staat nicht die  Rede sein. Und zweitens findet noch ein ganz anderer, problematischer Prozess statt: der Übergriff der Ökonomie auf andere Teilbereiche des gesellschaftlichen Lebens. Die Vermittlung zwischen ökonomischen Ansprüchen und Demokratie, die zuvor über die keynesianischen Sozialprogramme aufgefangen wurden, verläuft nicht mehr auf staatlicher Ebene, sondern ist auf zwischenmenschliche Beziehungen und ins Subjekt selbst hineingelegt worden. Soziale Beziehungen werden immer häufiger im Lichte ökonomischer Vorteile betrachtet und es ist der Einzelne, dem es jetzt obliegt, allen neuen Anforderungen des aktivierenden Arbeitsmarktes gerecht zu werden. Wir alle müssen hochmobil sein, gerne jederzeit unseren Wohnungsort für eine Arbeitsstelle wechseln, bereit sein, unser Privatleben den Arbeitsanforderungen unterzuordnen und ‚rund um die Uhr’ zur Verfügung zu stehen. Wir müssen, mit Richard Sennett gesprochen, zum ‚flexiblen Menschen’ werden (Sennett 2006), zum Menschen, der sein Leben zum ‚Projekt’ macht. 
Durch die Ökonomisierung des Subjekts wird das Private politisch - allerdings nicht in der Art und Weise, wie man die Aussage, „das Private ist politisch“ noch in den 1970er Jahren verstanden hat. Während es damals bedeutete, dass alles, was bis dato in den Privatbereich fiel, grundsätzlich der öffentlichen Diskussion und Kritik zugänglich gemacht werden kann und sollte (Beispiel Gewalt in der Ehe), wird gegenwärtig das Private politisch, indem von Seiten der Gesellschaft vom Einzelnen gefordert wird, sich ‚fit’ für den Markt zu machen. Das Politische wird von der politischen Mitbestimmung der BürgerInnen losgelöst und in den Bereich der Marktpartizipation gedrängt. Politisch ist nicht mehr der Kampf gegen Unterdrückung, Ausbeutung und Diskriminierung. Vielmehr erscheint als politisch jene individuelle Lebensplanung, die sich gegenüber der Gemeinschaft als marktkompatibel rechtfertigen läßt. 
Damit ist bereits eine Brücke zur fünften These über die politische Partizipation geschlagen.
Fünfte These: Demokratie zeichnet sich gegenwärtig dadurch aus, dass es völlig intakte Institutionen der politischen Mitbestimmung gibt, aber die BürgerInnen von den tatsächlichen Entscheidungen auf Bundes-, EU- und globaler Ebene weitestgehend abgeschnitten sind.
Politische Entscheidungen werden in geradezu vordemokratischer Manie getroffen. Statt in den Parlamenten sind nationale und internationale Organisationen, Verwaltungen und Gerichte zum Entscheidungsort geworden. Colin Crouch, amerikanischer Wissenschaftler, hat dies als „Postdemokratie“ bezeichnet (Crouch 2004):  Demokratische Organe operieren reibungslos, ohne aber, dass sie tatsächlich noch mit politischer Macht ausgestattet wären. Die haben längst andere inne. ExpertInnen, BeamtInnen, MinisterInnen diskutieren als verlängerter Arm staatlicher Regierungen und privater Akteure (beispielsweise transnationale Unternehmen) über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg mit ihren jeweiligen KollegInnen über gemeinsame, bereichsspezifische Anliegen wie Finanzregulationen, Handelsbarrieren, polizeiliche Einsätze oder Umweltschutz – losgelöst von nationalen, regionalen und lokalen demokratischen Entscheidungsebenen. 
Während einige WissenschaftlerInnen dies noch als demokratische Entscheidungsfindung einschätzen (Slaughter 2004), weil es sich teilweise um gewählte Vertreter handelt, die über das nötige Expertenwissen für effiziente Lösungsvorschläge verfügen und die dann transnationale Abkommen treffen, scheint mir hier ein grundlegendes Prinzip der Demokratie aushebelt zu werden: nämlich das ‚Betroffenheitsprinzip’, welches besagt, dass diejenigen, die von einer Regel betroffen sind, und sich dieser unterwerfen müssen, auch AutorInnen dieser Regelung sein sollten (Habermas 1992). Von der Erfüllung dieses Prinzips aber kann in der Postdemokratie keine Rede sein. 
Angesichts der Diagnose, dass die Aktivierungsgesellschaft zur Ökonomisierung unserer  Lebenswelt führt und in der Postdemokratie die politische Entscheidungshoheit Experten- und Elitenrunden obliegt, stellt sich die Frage, was daraus für das ‚Prinzip Partizipation’ folgt. In den letzten beiden Thesen möchte ich eine erste Antwort auf diese Frage geben.
Sechste These: Demokratie ist nicht gleichzusetzen mit Rechtsstaatlichkeit. Demokratie ist Chaos, geprägt durch unübersichtliche, vielstimmige und unterschiedliche öffentliche Aktionen. Öffentliche Proteste der Bürgerinnen sind Ausdruck einer lebendigen Demokratie.

Es besteht nicht selten ein Missverständnis darüber, was Demokratie auszeichnet. Häufig wird der Eindruck erweckt, Demokratie und  Rechtsstaatlichkeit seien das Gleiche. Natürlich kann es ohne Recht keine Demokratie geben. Wird aber der Rechtsaspekt zu stark betont, kommt es zur Verwaltungsdemokratie, die alle Anzeichen der bereits skizzierten Postdemokratie aufweist (Möllers 2009). Und doch fragt man sich, warum z.B. das Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht so groß ist, das dem Gesetzgeber Vorgaben für politische Entscheidungen auferlegt und damit seine Souveräntität beschneidet. Oder warum in Deutschland das Parteien-Verbot als sehr problematisch angesehen wird, so als ob man dem Recht mehr trauen kann als der Demokratie. Dabei ist die Demokratie auch in Deutschland durchaus belastbar. Wir müssen uns jedoch womöglich an ein etwas anderes Bild von Demokratie gewöhnen. Demokratie ist Chaos, ist Unordnung. Sie ist vielstimmig. In ihr sind gegensätzliche und abweichende Positionen zu hören, es kommt zu Grenzüberschreitungen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen und die Pluralität der Meinungen verhindert einen vorschnellen Konsens. Demokratie ist, in anderen Worten, das Austragen von Konflikten.
Zwischenruf aus dem Publikum: Geht es hier um Freund und Feind?
Vielen Dank für diesen Hinweis, der sich offensichtlich auf Carl Schmidt bezieht. Carl Schmitt setzte Konflikthaftigkeit gleich mit Freund-Feind-Denken. Ich möchte Politik nicht auf ein Moment der Kontingenz, der willkürlichen Entscheidung reduzieren, die ohne vernünftige Argumentation auskommt. Auch liegt es mir fern, politische Akteure (Staaten und BürgerInnen) in der dichotomen Kategorie Freund-Feind zu erfassen und nicht als gleichberechtigte Akteure anzusehen. 
Vielmehr möchte ich dafür plädieren, mehr Vertrauen in Demokratie und Öffentlichkeit zu haben. Formale demokratische Verfahren basieren auf der rationalen Argumentation aller Beteiligten. Aber formale Verfahren bleiben auf den ‚Input’ durch die Öffentlichkeit angewiesen. Öffentlichkeit entwickelt sich zum einen von innen aus den Gesellschaften heraus, und sie kooperiert über Staatsgrenzen hinweg. Öffentlichkeit sollte im Plural gebraucht werden. Denn meist sind es viele Öffentlichkeiten, die beispielsweise aus Anlass globaler Ereignisse, ins Leben gerufen werden, denken Sie an die Konferenzen der Vereinten Nationen oder aber an Gipfeltreffen der globalen Entscheidungseliten, die ihrerseits neue Räume und Strukturen schaffen. Transnationale Öffentlichkeiten entstehen von ‚oben’ und von ‚unten’, sie sind amorph, wandelbar und bilden Brücken zwischen ‚innen’ und ‚außen’, zwischen Lokalität und Globalität, zwischen im Fluss befindlichem lebensweltlichem Kontext und eher statischem institutionellem Rahmen. 
So genannte ‚informelle’ Öffentlichkeiten (Brunkhorst 2002), in denen die deliberative Praxis im Schatten der Grundrechtsfreiheit, aber ohne über Entscheidungskompetenzen zu verfügen, gedeihen kann, müssen durch ‚formelle’ Öffentlichkeiten ergänzt werden. Die Stärke der ‚informellen’ Öffentlichkeiten liegt darin, über kommunikative, lebensweltliche Spontanaktionen die ständig drohenden Übergriffen durch die Wirtschaft und andere zweckrationalen Organisationsbereich (administrative Steuerung) zu stören und zu verhindern. Das ist zugleich der Raum des Sichtbarmachens der ökonomisch und rechtlich Ausgeschlossenen sowie der politischen Inklusion. Von den Spontanaktionen kann ein Weg zu „starken Öffentlichkeiten“ mit ihren politischen und gerichtlichen Entscheidungsorganen führen (Brunkhorst 2002: 184ff.). Beispiele für informelle Öffentlichkeit sind die heutige Weltöffentlichkeit (Seattle), Staaten mit eher symbolischen Verfassungen, wie etwa Russland, verschiedene Länder Lateinamerikas oder Indiens. Zu den formellen Öffentlichkeiten, die grundrechtlich abgesichert und organisationsrechtlich mit politischen Entscheidungen des Volkes oder seiner Organe verschränkt sind, gehören vor allem Parlamente, die die öffentliche Sphäre innerhalb, aber auch jenseits des Staates (Beispiel EU und Vollversammlung der UN) darstellen und aus Meinungs- und Beschlussfassungsgremien bestehen. 
Vertrauen in die Demokratie zu haben, bedeutet, die wichtige Rolle der Öffentlichkeit anzuerkennen und Proteste nicht als Störung der  Rechtsordnung, sondern als notwendige Voraussetzung einer lebendigen Demokratie zu verstehen.
Siebte These: Politische Partizipation muss bestehende Institutionen erschüttern.

Lassen Sie mich zum Schluss zwei Anforderungen an Partizipation formulieren, die sich aus dem bislang Gesagten ergeben.  
Statt anhaltenden Existenzunsicherheit und wachsendem Druck, noch mobiler und flexibler zu sein, ausgesetzt zu bleiben, sollte es BürgerInnen möglich sein, neue Formen des ‚guten Lebens’ auszuprobieren. Soziale Partizipation sollte sich auf die Gesellschaft als Ganzes und nicht nur auf den Markt beziehen. Nicht die Logik der Ökonomie sollte lebensbestimmend sein. Vielmehr sollten bewußte politische Entscheidungen auf Basis demokratischer Aushandlungsprozesse über das Verhältnis von Ökonomie und Politik entscheiden. Dafür bedarf es einer breiten Diskussion über die Werte und Maximen des Neoliberalismus: über die Aushöhlung des Freiheitsbegriffes, die Verkehrung der Solidarität und die Mechanismen, soziale und politische Partizipaton zu verhindern. Kurz: Es sollten Bedingungen geschaffen werden, die es erlauben, soziale Partizipation auf alle gesellschaftlichen Bereiche auszudehnen. 
Zweites muss politische Partizipation die institutionelle Ordnung mit Blick auf ihre Notwendigkeit, aber auch ihr Beherrschungspoteintial adäquat erfassen. Demokratsche Politik kann nicht ohne Strukturen und Einrichtungen auskommen, die allen BürgerInnen (bzw. allgmeiner: von Entscheidungen Betroffenen) einen gleichberechtgien Status garantierten. Dieser Staturs darf sich aber nicht bloß im gemeinsamen Handeln erschöpfen. Es reicht nicht mit Hannah Arendt zu sagen Politik sei Handeln. Natürlich ist Politik auch Handeln. Aber Politik hat auch eine rechtsstaatliche Seite. Politisches Handeln muss Institutionen im Blick haben, d.h. das Regelsystem, das Rechte, Normen und Prinzipien umfasst. Im Prozess der Infragestellung bestehender Institutionen wird Politik zu einer Praxis, bei der politisches Handeln und Institutionen zusammen gedacht werden. Politik etabliert, ändert oder schafft politische Institutionen ab. Und Institutionen verkörpern politisches Handeln, verstetigen Handeln und bilden eine stabile Basis für Neues und die mögliche Überwindung alles Bestehenden. Beispielsweise sollten Nichtregierungsorganisationen noch mehr Einfluss bei Entscheidungen auf internationaler Ebene erhalten (Stichwort WTO) und Bürgerinitiativen früher in Entscheidungsprozesse eingebunden werden.  
Das Prinzip Partizipation muss beides sein: Kritik an kapitalistischen Verhältnissen und Erschütterung und Erneuerung von Institutionen. Die Konflikthaftigkeit von öffentlichen Anliegen muss zu politischem Handeln motivieren und Institutionenensysteme verändern. Der Weg zum Neuanfang kann nur durch Politik als Handeln und als Infrastellung der institutionellen Ordnung geebnet werden. 
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Literaturhinweise
Bode, Thilo/Pink, Katja: Die Finanzkrise als Demokratiekrise. Der Staat als Dienstleister des Finanzkapitals, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 6, 2010, 45-56.
Brunkhorst,  Hauke (2002): Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt am Main.
Crouch, Colin (2004): Postdemokratie, Frankfurt am Main.
Esping-Andersen, Gosta (1989): The Three Worlds of Welfare Capitalism, London.
Habermas, Jürgen (1992): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt am Main.
Koch, Susanne/Stephan,  Gesine/Walwei, Ulrich:  Workfare: Möglichkeiten und Grenzen, in: ZAF 2 und 3/2005, S. 419-440.
Lessenich, Stephan 2009: Mobilität und Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft, in: Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut (Hrsg.): Soziologie – Kapitalismus – Kritik, Frankfurt am Main, 126-180. 
Möllers, Christoph (2009): Demokratie – Zumutung und Versprechen, Berlin.
Mückenberger, Ulrich (1990): Normalarbeitsverhältnis: Lohnarbeit als normativer Horizont sozialer Sicherheit? In: Sachße, Christoph/Engelhardt, Tristam, H. (Hrsg.): Sicherheit und Freiheit. Zur Ethik des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt am Main, 158-178.
Sennett, Richard (2006): Der flexiblbe Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin.
Slaughter, Anne-Marie (2004): The New World-Order, Princeton. 
Vogel, Berthold (2004): Der Nachmittag des Wohlfahrtsstaats. Zur politischen Ordnung gesellschaftlicher Ungleichheit. In: Mittelweg 36. 13(2004),4; S. 36-55