Kinder alleine oder getrennt erziehen, arbeiten und ein politisches Ehrenamt gestalten – wie geht das und wie könnte es besser gehen?
Theda Dourado und Dr. Farina Nagel sind politisch engagiert, berufstätig – und allein- bzw. getrennterziehende Mütter. Im Interview erzählen sie uns von ihren Erfahrungen in verschiedenen politischen Ämtern und ihrer Perspektive auf Vereinbarkeit von Beruf, Ehrenamt und Familie. Linda Lieber, Bildungsmanagerin der Heinrich Böll Stiftung NRW, spricht mit ihnen darüber, welche Veränderungsbedarfe sie sehen und wie sie selbst diese Veränderungen anschieben.
Dr. Farina Nagel arbeitet als Referentin in der Enquetekommission „Chancengleichheit in der Bildung“ für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Landtag NRW.

Das Interview führt Linda Lieber, Bildungsmanagerin der Heinrich Böll Stiftung NRW.
Liebe Farina, in welchem politischen Ehrenamt hast Du dich bisher engagiert?
Farina: Ich war fast 4 Jahre lang Stadtverordnete in Mülheim an der Ruhr. Dabei habe ich mich als bildungspolitische Sprecherin, Mitglied des Integrationsrats, Beisitzerin im Fraktionsvorstand und im Finanzausschuss engagiert. 2020 wurde ich als 13. von insgesamt 13 Stadtverordneten der Grünen Liste in den Rat der Stadt Mülheim gewählt.
Zu den Aufgaben einer Stadtverordneten gehören viele Termine, wie die Teilnahme an den Fachausschüssen, die wöchentliche Fraktionssitzung, Fraktionsvorstandssitzungen, aber auch Recherche, das Schreiben von Anträgen, und vieles mehr. Dazu kommen viele informelle Absprachen, die zwischendurch stattfinden – per E-Mail, in verschiedenen WhatsApp- und Signal-Gruppen sowie über Telefonate, Videokonferenzen und Präsenztreffen.
Im Februar 2020 – also im Jahr der Kommunalwahl – kam meine Tochter zur Welt. Ursprünglich hatten wir die Idee, dass ich nicht direkt in den Stadtrat komme, sondern als „Huckepack-Kandidatur“ für unsere Bundestagskandidatin Franziska Krumwiede-Steiner bei der nächsten Bundestagswahl nachrücke. Da wir ähnliche Themen bearbeiten, fand ich diese Idee gut. Anders als geplant, bin ich allerdings direkt über die Liste gewählt worden, und ich trat das Mandat mit Säugling an. Als ich es einmal übernommen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, es einfach wieder zurückzugeben. Es war eine spannende Zeit, in der ich unglaublich viel gelernt habe und viele großartige Menschen kennengelernt habe.
Für mich bedeutet Vereinbarkeit jedoch nicht, mein Kind möglichst viel weg zu organisieren. Eine grundlegende Menge von Zeit – und vor allem wenn es nur noch die Hälfte ist – mit dem eigenen Kind zu verbringen zu können, sollte nicht in Frage stehen. Für keinen Elternteil.
Wie geht das mit Deinen Aufgaben als Mutter und Deinem Job zusammen? Welche Herausforderungen stellen sich Dir dabei als Alleinerziehende in der Politik?
Farina: Tja, als Mutter im Ehrenamt, die auch noch einen Job hat, sind das Anstrengende die verschiedenen Rollenerwartungen, mit denen man konfrontiert wird: beruflich erfolgreich zu sein, eine gute Partnerin zu sein, politische Durchsetzungskraft zu entfalten und gleichzeitig geduldig und liebevoll für sein Kind da zu sein. Das sind sehr vielfältige Anforderungen, bei denen ich das Gefühl habe, dass sie auch immer anspruchsvoller und komplexer werden.
Ob „alleinerziehend“ oder „getrennterziehend“- über die Begriffe kann man sich ja streiten. Denn wenn die Betreuung geteilt wird, ergeben sich sowohl Vor- als auch Nachteile. Der Vorteil ist, dass die Zeit ohne Kind, nach meinen Bedürfnissen und Wünschen geplant werden kann. Familiäre Konflikte über Abwesenheiten durch bspw. ewig lange Sitzungen und die beschriebene Zerrissenheit fallen weg. In unserem Fall sind klare Absprachen im Wechselmodell mit gegenseitigem Ermöglichen ein großer Vorteil. Apps wie „Getrennt Gemeinsam“ unterstützen dabei.
Aber es ist natürlich so, dass man weniger flexibel ist. An Tagen mit Kind möchte ich meine Aufmerksamkeit nicht zwischen meinem Kind und der Videokonferenz oder Terminen aufteilen. Diese Entscheidung beeinträchtigt dann den Informationsfluss, der für die eigene Positionierung und Einflussnahme entscheidend sind.
Ein weiterer Punkt, den ich als schwierig empfinde: Wenn das Thema Vereinbarkeit in politischen Kontexten angesprochen wird, wird schnell der Hinweis gegeben, dass die Großeltern eingespannt oder eine Betreuung über die Stadt zu organisieren sein. Für mich bedeutet Vereinbarkeit jedoch nicht, mein Kind möglichst viel weg zu organisieren. Eine grundlegende Menge von Zeit – und vor allem wenn es nur noch die Hälfte ist – mit dem eigenen Kind zu verbringen zu können, sollte nicht in Frage stehen. Für keinen Elternteil.
Es gab einen Punkt, an dem die Organisation gut klappte und ich ein gewisses Maß an eigener Wirksamkeit in den politischen Zuständigkeiten entfalten konnte – und damit Freude am Mandat. Wenn dann aber Konflikte und politische Machtkämpfe hinzukommen, geht die Rechnung nicht mehr auf. Das war der Grund, warum ich dann nach fast 4 Jahren mein Mandat niedergelegt habe.
Ich muss aber auch zugeben, dass es mir fehlt und ich sehr froh bin als Vorständin der Heinrich Böll Stiftung NRW ehrenamtlich aktiv zu sein.
Mit Blick auf diese Erfahrungen: Welche sind Deine politischen Forderungen zur Vereinbarkeit von Beruf, Ehrenamt und Familie?
Farina: Zunächst würde ich sagen, dass ich nicht nur Anforderungen an die Politik habe, sondern auch an uns, an die Gesellschaft im Allgemeinen. Ich weiß das ist immer schwierig, wenn man da Verantwortungsdiffusion betreibt und das so global formuliert, aber ich glaube, dass es eine stärkere Kultur der Vereinbarkeit braucht.
Es ist nicht breit akzeptiert, sich als junge Frau, als junge Mutter politisch zu engagieren. Ich habe leider auch die Erfahrung gemacht, nicht ernst genommen zu werden. Dabei gäbe es Wege, die Situation anders zu gestalten: Eine Art Willkommenskultur für Menschen mit Kind! Darf beispielsweise das Kind mit in den Ausschuss im Betreuungsnotfall mitgenommen werden? Gibt es mehr Verständnis und Entgegenkommen, wenn sich aus familiären Gründen bestimmte Termine nicht einhalten lassen oder digital wahrgenommen werden? Besteht die Bereitschaft Sitzungen oder Redezeiten zeitlich zu begrenzen? Das hängt eng damit zusammen, wie wir Politiker*innen sehen und was wir von ihnen erwarten.
Weitere Vorschläge liegen schon auf dem Tisch: Redezeitbegrenzung in Ausschüssen oder im Rat eine Begrenzung in den Abendstunden, familienfreie Sonntage.
Politik ist immer noch auf das klassische Modell ausgerichtet, bei dem ein Mann im Mittelpunkt steht, der zwar vielleicht Kinder hat, aber eine Frau zu Hause, die sich um alles kümmert. Das ist einfach nicht zeitgemäß! So bekommen wir keine Vielfalt in unsere politischen Gremien, und genau die brauchen wir.
Wie kommst Du mit diesen Forderungen voran? Was hilft dir bei der Umsetzung – oder auch nicht?
Was sehr unterstützend wirkt, ist nicht die einzige Mutter in der Fraktion zu sein. Die hat mich einfach sehr entlastet und Hinweise gegeben, wie diese Vereinbarkeit gelingen kann.
Was ich als hinderlich empfunden habe? Meine Tochter war 6 Monate alt und bei ihrem Vater, als ich meine erste Ratssitzung hatte. Bei der konstituierenden Sitzung konnte ich sie noch mitnehmen, da war sie in der Trage, aber das war ja auch nur unsere Fraktion. Aber in der Ratssitzung, da hab ich schon wahnsinnig geschwitzt. Die noch gestillte Tochter hat über den Zeitraum der abendlichen Sitzung viel geweint. Trotzdem da zu sein, ist dann keine einfache Entscheidung.
Ich merke, das Thema "Zeit" ist ganz zentral. Ausschusssitzungen, die 4 Stunden dauern, wenn man vorher noch eine Stunde Vorbesprechung hat, sind dann quasi nochmal ein zweiter Arbeitstag: Ich bin häufig nach einem 7-stündigen Arbeitstag zur Vorbesprechung gefahren, dann fand der Ausschuss statt und irgendwie war ich erst um 21:00 Uhr Zuhause. Da wünsche ich mir andere Möglichkeiten, bspw. dass der Informationsfluss besser ist und Präsentationen z.B. schon vorab zugesendet werden, damit die Präsenzzeit vor Ort entlastet wird.
Wenn besonders viele Anforderungen sowohl im Job als auch privat auf mich zukamen, habe ich mir in Absprache mit den Fraktionsvorsitzenden auch mal Auszeiten genommen. Zum Beispiel habe ich für sechs Wochen die Fraktionssitzungen ausgesetzt, um eine Führungskräftefortbildung zu absolvieren, die aber intensiv war. Unsere Fraktionsspitze hat das akzeptiert, was eine enorme Entlastung für mich war. Das macht schon viel aus, diese wichtige Unterstützung auf seiner Seite zu haben.
Politik ist immer noch auf das klassische Modell ausgerichtet, bei dem ein Mann im Mittelpunkt steht, der zwar vielleicht Kinder hat, aber eine Frau zu Hause, die sich um alles kümmert. Das ist einfach nicht zeitgemäß! So bekommen wir keine Vielfalt in unsere politischen Gremien, und genau die brauchen wir.
Was motiviert dich, trotz aller Herausforderungen weiterzumachen?
Farina: Ich glaube, entweder ist man ein politischer Mensch oder man ist das nicht. Ich war schon immer politisch und kann mir auch ein Leben ohne Politik nicht vorstellen. Das ist einfach so. Ich fühle mich gesellschaftlich verantwortlich, unsere Welt mitzugestalten. In mir herrscht ein großer Drang, politischen Themen selber nachzugehen.
Was möchtest Du anderen Alleinerziehenden auf den Weg geben?
Farina: Ihr seid nicht alleine! Ich kann jede Alleinerziehende sehr gut verstehen, die sagt „Mein Alltag ist anstrengend genug und ich habe weder Kraft noch Energie noch Zeit noch Geld, mich zusätzlich ehrenamtlich zu engagieren. Aber es gibt Frauen da draußen, die euch mitdenken und die eure Perspektive wichtig finden und die für euch mitkämpfen, so gut es geht. Wir sollten als Frauen zusammenhalten und uns gegenseitig unterstützen.